Rat der Europäischen Union einigt sich auf Verfassungstext

Der Europäische Rat von Brüssel (17. und 18. Juni 2004) hat sich auf einen Verfassungstext geeinigt. Damit kann rund ein Jahr nachdem der Konvent seine Tätigkeit abgeschlossen hat das Ratifizierungsverfahren in den Mitgliedstaaten beginnen.

Schwache Identifikationskraft

In Deutschland wird das Grundgesetz hoch geschätzt; in den Vereinigten Staaten kann man von einem Verfassungspatriotismus sprechen. Eines der zentralen Anliegen war — angesichts der schwindenden Zustimmung der Unionsbürger zu der EU — das Projekts „Verfassung“. Die erfolgreiche Verfassungsentwicklung sollte zu einer europäischen Identitätsstiftung beitragen und die Herausbildung eines europäischen Verfassungspatriotismus befördern.

Der von den Regierungschefs abgesegnete Entwurf für die Verfassung der Europäischen Union ist mit 464 Artikeln (rd. 300 Seiten Text) sehr lang, ein Buch. Wenn es sich um Patriotismus, um Identifikation handelt, werden Formulierungen wichtig. Der Stil der europäischen Verfassung ist trocken und bürokratisch:

Art. 1 Abs. 1:
Geleitet von dem Willen der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten Europas, ihre Zukunft gemeinsam zu gestalten, begründet diese Verfassung die Europäische Union, der die Mitgliedstaaten Zuständigkeiten zur Verwirklichung ihrer gemeinsamen Ziele übertragen. Die Union koordiniert die diesen Zielen dienende Politik der Mitgliedstaaten und übt die ihr von den Mitgliedstaaten übertragenen Zuständigkeiten in gemeinschaftlicher Weise aus.

Art. 2 Abs. 1:
Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte; diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und Nichtdiskriminierung auszeichnet.

Wieviel anders klingen zentrale Formulierungen des deutschen Grundgesetzes:

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

oder der US-Verfassung:

We the People of the United States, in Order to form a more perfect Union …

Integrative Kraft oder Identifikation mit Europa – die man sich von der „Verfassung“ erhoffte – wird von diesem Buch kaum ausgehen können. Die Verfassung ist zu lang, zu technisch.

Seit dem 28. Februar 2002 tagte in Brüssel der Europäische Konvent mit dem Ziel der Formulierung eines europäischen Verfassungsvertages. Der Begriff Verfassung ist allerdings ein Euphemismus, entspricht das Verfahren zur Verabschiedung und zur Änderung der Verfassung auch weiterhin dem eines Vertrages. Dementsprechend ist in Art. IV 8 von der Ratifikation und dem Inkrafttreten des Vertrags über die Verfassung die Rede. Das spüren die deutschen Bürger. Die Forderung nach einer Abstimmung über die Verfassung findet breiten Zuspruch in der Bevölkerung.

Daneben sollte eine Stärkung der Effizienz, Vergrößerung der Transparenz und Verbreiterung der demokratischen Legitimation der EU und deren Entscheidungen erfolgen.

Es wurde auch die Möglichkeit aufgenommen, wonach ein Mitgliedstaat die Mitgliedschaft in der Europäischen Union beenden kann. Damit bekommt die EU den Charakter eines Clubs. Auch dies spricht nicht unbedingt für das Entstehen eines Partiotismus.

Der nächste Schritt: Ratifizierung

Die Ratifizierung ist nunmehr der nächste Schritt. Da es sich — wie gesagt — um einen Vertrag handelt, müssen alle Mitgliedstaaten zustimmen. Auch für die Änderung des Vertrages über die Europäische Verfassung ist die Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten notwendig. Die Zustimmung der Mitgliedstaaten erfolgt nach dem jeweils vorgesehenen nationalen Verfahren. In Deutschland ist die Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und von zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates erforderlich. In anderen Ländern sind teilweise Volksabstimmungen vorgeschrieben oder zumindest geplant.

In Deutschland ist eine Volksabstimmung ohne Änderung des Grundgesetzes hingegen nicht möglich. Auch europaweit kommt eine Abstimmung über die Verfassung derzeit nicht in Betracht. In der Europäischen Union ist keine entsprechende Grundlage vorhanden. Allerdings – und darüber sind sich die hiesigen Politiker im Klaren – kann so eine Abstimmung über die Verfassung wie auch die Europawahl 2004 zu einer Abstimmung über die Erfolge der nationalen Politik werden. Auch wenn in Deutschland Rot-Grün, die Union und die FDP die Verfassung tragen – es ist keineswegs gewiss, dass sie in einer Volksabstimmung Bestand haben würde.

Abschnitte der Verfassung

Die Verfassung ersetzt den Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag) und den Vertrag über die Gründung der Europäischen Union (EU-Vertrag). Demnach bleibt der Euratom-Vertrag weiter bestehen. In weiten Teilen wurden die Regelunen aus dem EG-Vertrag und dem EU-Vertrag übernommen. Die Charta der Grundrechte wurde vom Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission in Nizza, Dezember 2000, verkündet.

Der Entwurf der Verfassung umfasst vier Teile vor:

  1. Teil I mit 59 Artikel hat die Grundzüge der Europäischen Union zum Gegenstand. Hierzu gehören u.a. die Ziele, die Organe oder die Zuständigkeit der Union.
  2. Die Charta der Grundrechte mit 53 Artikeln sind in Teil II der Verfassung aufgenommen worden. Die Charta gilt für die Organe, Einrichtungen, Ämter und Agenturen der Union unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Sie dehnt den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus und begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union, noch ändert sie die in den anderen Teilen der Verfassung festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben.
  3. Teil III stellt mit 342 Artikel den umfangreichsten Abschnitt. Darin sind die Politkbereiche und die Arbeitsweise der Union aufgenommen worden. Hier findet sich der Großteil des EG-Vertrages wieder.
  4. Teil IV enthält in den 10 Artikeln allgemeine Bestimmungen zu den Symbolen der Union, zur Änderung der Verträge u.ä, Fragen.

Wenn die Verfassung ratifiziert werden sollte, wird man sich also an Bezifferungen wie Art. III-36 für die Zollunion gewöhnen müssen.

Organe

Der institutionelle Rahmen der Union umfasst

  • das Europäische Parlament,
  • den Europäische Rat,
  • den Ministerrat,
  • die Europäische Kommission,
  • den Gerichtshof.

Der Rat, also das Organ, in dem die Regierungsvertreter der Mitgliedstaaten vertreten sind, bleibt weiterhin das wichtigste Organ der Union. Die Bereiche, in denen mit qualifizierter Mehrheit im Rat entschieden werden kann, werden ausgeweitet. Die Mehrheitsentscheidung wird zur Regel, Ausnahmen bilden insb. die Justiz-, Innen-, Außen-, Wirtschafts- und Finanzpolitik.

Für die qualifizierte Mehrheit im Rat sind 55 Prozent der Stimmen der Mitgliedsstaaten notwendig, die gleichzeitig 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren. Jeder Staat hat dabei eine Stimme. Auf diese Art hat man zwei Aspekte miteinander verknüpft: einerseits Staaten als Mitglieder, andererseits die Bürger in den Mitgliedstaaten. Eine Sperrminorität muss aus mindestens vier Staaten bestehen. Damit können die drei bevölkerungsreichsten Länder einen Mehrheitsbeschluss nicht verhindern.

Bei Mehrheitsbeschlüssen, die nicht auf einen Vorschlag der EU-Kommission oder des künftigen EU-Außenministers zurückgehen, ist eine höhere Zustimmung von 72 Prozent der Staaten mit zusammen mindestens 65 Prozent der Bevölkerung erforderlich.

Soweit die Entscheidungen nicht alle Staaten betreffen, gelten die Prozentsätze für die betroffenen Mitgliedstaaten.

Diese Mehrheiten sollen nach dem Entwurf ab dem 1. Nov. 2009 zum Tragen kommen.

Neue Vertreter

Der Rat bekommt einen Präsidenten und die Union einen Außenminister. Der Außenminister wird Mitglied der Kommission und deren Vizepräsident.

Bislang wechselte die Präsidentschaft der EU alle 6 Monate von einem Mitgliedstaat zum nächsten. Dieses Verfahren wird abgeschafft. Statt dessen wird eine Person zum Präsident des Europäischen Rates vom Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit für einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren gewählt. Er kann einmal wieder gewählt werden und darf kein einzelstaatliches Amt innehaben. Der Präsident des Europäischen Rates führt den Vorsitz und leitet die Beratungen des Europäischen Rates. In Zusammenarbeit mit dem Präsidenten der Kommission sorgt er auf der Grundlage der Arbeiten des Rates (Allgemeine Angelegenheiten) für die angemessene Vorbereitung und Kontinuität.

Parlament – Zusammensetzung

Die großen Mitgliedstaaten müssen nach dem Entwurf weiter Federn lassen. Die Zahl der Abgeordneten steigt von 732 auf 750. Die gefundene Regelung sieht nunmehr vor, dass in dem Parlament ab 2009 jeder Mitgliedstaat mit mindestens sechs Abgeordneten im Parlament vertreten sein wird. Maximal darf jedes Land dann 96 Abgeordnete nach Straßburg schicken. Deutschland muss also auf drei Mandate – bei einem größeren Parlament – verzichten.

Die Zahl der Entscheidungen, bei denen das Parlament zustimmen muss, wurde vergrößert.

Zusammensetzung der Kommission

Die Kommissionsmitglieder werden für 5 Jahre ernannt. Die erste nach der Verfassung ernannte Kommission (bis 2014 ) soll ein Mitglied aus jedem Mitgliedstaat haben. Danach wird sich die Kommission aus zwei Dritteln der Anzahl der Mitgliedstaaten zusammensetzen, also verkleinert.

Defizitverfahren

Die Kompetenzen der Kommission gegenüber Staaten mit hohem Staatsdefizit (3 % des BIP) werden in der Verfassung nicht ausgeweitet. Allerdings kann der Vorschlag der Kommission über die Feststellung eines übermäßigen Defizits vom Ministerrat nur einstimmig abgeblockt werden. Für die Verhängung von Sanktionen gegen Mitgliedstaaten soll die Kommission aber nur Empfehlungen geben können, die mit der besonders qualifizierten Mehrheit angenommen werden müssen.

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