Archiv der Kategorie: Geschichte

Abstruse Zensur im romantischen London


Lord Byron

Juli 1819 wurden Londons obere Schichte durch das Erscheinen von Don Juan, einem anonym veröffentlichten Versepos, erschüttert. Schon als Sechzehnjähriger verführt Don Juan die verheiratete Donna Julia. Deren naiven Versuche, der Beziehung das körperliche Element zu nehmen, scheitern kläglich. Ihr Ehemann Don Alfonso schöpft Verdacht, durchsucht mit Gehilfen ihr Schlafzimmer, zuerst ohne Erfolg. So blamiert er  sich und seine Gattin, doch kaum war die Tür geschlossen und Donna Julia allein im Schlafzimmer: „Vernehmt, was ich so gern verschwiegen hätte: Juan, beinah erstickt, schlüpft‘ aus dem Bette.“ Don Alfonso entdeckt den Jüngling dann doch. Donna Julia kommt in ein Kloster und Don Juan muss Sevilla verlassen und beginnt eine Reise mit Abenteuern und Liebschaften durch halb Europa, eine Mischung aus Candide und James Bond.

Die Anonymität der Veröffentlichung war an sich nicht auffällig, weil der überwiegende Teil der Belletristik in Großbritannien in der dieser Zeit anonym erschien, auch wenn der Text von einem der berühmtesten Autoren Europas, Lord Byron, stammte. Die Liebesabenteuer des Don Juan waren die Grundlage für eine respektlose Satire der Regency Gesellschaft, die die männlichen Phantasien aufs Korn nahm. Es war zugleich ein Angriff auf die Heuchelei, die vorgetäuschte Moral und den schlechten Geschmack der britischen Oberschicht.

König George IV. 1821

Der Prince of Wales und spätere George IV. führte einen ausschweifenden Lebenswandel: Verschwendungs- und Spielsucht, Alkohol, regelmäßige Affären und luxuriöse Paläste — er war trotz hoher Apanage ständig verschuldet. Er war allerdings nicht allein, sondern zugleich Vorbild. Seine Regentschaft gab der Epoche und deren Architektur, Literatur oder Mode den Namen Regency. Der (spätere) König stand über Jahre in engem Kontakt mit einen gesellschaftlichen Zentrum Londons dieser Zeit, dem Beau George Bryan Brummell. Dieser wiederum war vielleicht eine der Inspirationen für den Don Juan von Lord Byron. Zwischen 1799 und 1814 gab es in London kaum eine mondäne gesellschaftliche Veranstaltung, bei der die Anwesenheit des Dandys Brummell nicht als Erfolg, sein Fehlen als Katastrophe angesehen wurde. In den Zeitungsberichten über diese Ereignisse stand sein Name oft an erster Stelle. Er war nicht nur auf Almack’s Bällen (ein Ball war ein nahezu obligates Ereignis in den romantischen Romanen jener Zeit) regelmäßig anzutreffen, sondern genauso in Ascot, Brighton oder dem Watier-Club.

Dandys waren nicht nur für tagtäglich fünfstündige Gardrobe bekannt, sondern auch berüchtigt dafür, dass sie den Ehegatten Hörner aufsetzten und den Frauen gefielen, indem sie ihnen ungefällig waren. Während das Lohnniveau so niedrig war, dass in Arbeiterfamilien nicht nur die Ehefrauen, sondern sogar Kinder unter zehn Jahren oft über zwölf Stunden am Tag arbeiten mussten, entstand in der Oberschicht das Dandytum. Jules Barbey d’Aurevilly (Über das Dandytum und über George Brummell) sagte, das Dandytum zu beschreiben oder zu definieren, sei schwierig. Wer nur das Vordergründige sehe, erkenne nur die Kunst, sich gut anzuziehen, eine Diktatur des Putzes und der äußeren Eleganz.  Es sei eine Nuance in zivilisierten Gesellschaften, in denen der Anstand gerade noch über die Langeweile triumphiere.  Nirgendwo habe der Antagonismus zwischen dem Anstand und der Langeweile sich in den Sitten so deutlich bemerkbar gemacht wie in England, in der puritanischen Gesellschaft der Bibel und des Rechts.

Gillray: Three Graces in High Wind

Für die Damen wurde in dieser Zeit die Unterwäsche, der Petticoat, zu einer Notwendigkeit. Die Stoffe der Oberkleider waren hauchdünn, die Unterröcke aus stabilem Leinen oder aus Baumwolle. Die dekorativen Elemente des Unterrocks lugten unter dem Rock hervor. Der berühmte Karikaturist James Gillray veranschaulichte, wie aufschlussreich die  Kleider in der Regency-Zeit waren, selbst wenn Unterröcke getragen wurden.

Byron war nicht nur ein beliebter Autor, sondern ebenso ein berüchtigter Frauenliebling, der die Gunst der Frauen großzügig nutzte. Seine Affaire mit Caroline Lamb war ein Gesprächsthema der oberen Gesellschaft. Das soll nicht heißen, dass es keine anderen Frauen gab, sondern dass Frau Lamb Ehefrau eines angesehenen Aristokraten und Politikers war. Nachdem ihm 1816, neben dem übermäßigen Alkohol- und Drogenkonsum, ausschweifende Sexualpraktiken vorgeworfen wurden, verließ er Großbritannien.  Byron, der in dieser Gesellschaft durchaus also Namen und Rang und lang genug daran teil hatte, schwor jedoch in Don Juan und seinem Leben dem Dandytum ab (mit einigen Rückfällen), so dass der Text zugleich als eine Selbsttherapie erscheint. Er habe es übertrieben, sei bereits im Sommer angelangt, während er nach Lebensjahren noch mitten im Frühling stünde. Auf Bildern zeigte Byron sich elegant, aber auch ohne das obligate modische Halstuch des Dandys. Am Ende des ersten Gesanges legte Byron dar, er folge den Prinzipien der klassischen englischen Poesie von Milton, Dryden und Pope, nicht dem Geschmack seiner romantischen Zeitgenossen, namentlich Coleridge, Wordsworth und Southey („Der Erste trinkt, dem Zweiten gehn die Schrauben im Kopfe los, der Dritt‘ ist schon verschroben“). Ruhm sei eine Illusion und als ein falsches Motiv für das Schreiben von Poesie. Es hätte keinen Sinn, in gewissen Zeitungen regelmäßig erwähnt zu werden.

Ballkleid um 1820 -- Bild: An analysis of country dancing von T. Wilson

Sein Sittenbild wurde — wie viele andere Satiren auch — in der anständigen Oberschicht scharf kritisiert.  Byron beschwerte sich am 1. Februar 1819 in einem Brief an seinen Verleger Murray über die frühen Reaktion auf den ersten Canto: Wenn die Kritiker gesagt hätten, sein Gedicht sei schlecht, so hätte er es geduldet. Aber sie würden ihm das Gegenteil sagen und dann von der Moral sprechen. Zum ersten Mal höre er das Wort Moral von Personen, die keine Schurken seien und die das Wort  mit einer bestimmten Absicht nutzten. Don Juan sei ein höchst moralisches Werk, nur, wenn die Leser die Moral nicht erkennen würden, sei dies deren Schuld, nicht die seinige.

Nach der Veröffentlichung und im Laufe der nächsten fünf Jahre — also praktisch bis zu seinem Tod — kämpfte Byron mit Zensur. 1819 wurde nicht nur in Deutschland die Zensur verschärft, sondern ebenfalls in Frankreich und Großbritannien (Six Acts).  Byron, der sich in diesen Jahren allerdings in Italien aufhielt, wurde wegen Unsittlichkeit angeklagt.

Almack's Club in der King Street: Heiratsmarkt der Oberschicht

Don Juan (Cantos) kam 1819 als Quartausgabe, je nach Qualität der Bindung, für 35 bis 40 Schilling (s.) auf den Markt — und es wurde nachgedruckt, „pirated“, wie man es schon damals nannte. Schuld war — nach Meinung von Lord Byron — sein Verleger Murray höchstpersönlich, weil er die ersten beiden Cantos nur als Quartausgabe für anderthalb Guineen auf den Markt gebracht habe (damals durchaus üblich), obwohl eine hohe Nachfrage bestand. Weil das Werk als pornographisch eingestuft wurde, verweigerte allerdings der Lordkanzler (Court of Chancery) den Erlass einer Verfügung gegen Nachdrucker. Unmoralische Werke würden vom Gesetz nicht geschützt werden. Der u. a. für die Zensur zuständige Lord Chamberlain hatte 1817 verfügt, dass unmoralische, volksverhetzende oder blasphemische Schriften nicht in den Genuss des Copyrights kommen sollten.

Das Bild zeigt deshalb eine für Großbritannien außergewöhnliche Entwicklung: In der Regel wurden Bücher nur als teure Quart-  oder Oktavausgaben in kleinen Auflagen von 500 oder 750 Exemplaren auf den Markt gebracht. Weil jedoch der Lordkanzler die Nachdrucke nicht verbot, kamen immer kleinere und billigere Ausgaben auf den Markt.

Original und Nachdrucke

Dem sittlichen Zweck wäre wohl eher durch das Copyright gedient worden, denn zahlreiche Nachdrucke machten das pornographische Machwerk zum bei weitem auflagenstärksten Werk moderner Literatur dieser Zeit. Ein halbes Dutzend der Nachdrucke lässt sich heute nur noch anhand eines einzigen archivierten Druckexemplars feststellen und es lässt sich kaum sagen, ob innerhalb einiger Jahre einhundert-  oder zweihundertausend Exemplare gedruckt wurden (St Clair: The Reading Nation in the Romantic Period).

Der Verleger von Lord Byron, John Murray II, jammert nach dem Erscheinen der ersten Nachdrucke wie es sich für einen ordentlichen Kaufmann gehört: Er würde verarmen. Aber für die weiteren Cantos zahlte der tatsächlich überaus vermögende Verleger seinem Bestsellerautor dennoch stattliche Honorare, auch wenn diese ebenfalls nachgedruckt wurden.

Mehr Erfolg mit der mittelbaren Zensur hätte das Gericht wohl gehabt, wenn sie das Copyright durchgesetzt hätte, denn dann hätte der Absatz selbst eines beliebten Werks beim Preis von 35 Schilling bei einer Auflage von wenigen Tausenden gestockt. Nachdrucke für zwei Schilling und sechs Pence hätte es nicht gegeben.  In Großbritannien hatte man  durchaus Erfahrung mit der mittelbaren Zensur über den Preis. Indem Zeitungen mit einer Steuer belegt wurden und die Steuern in kritischen Zeiten erhöhte (etwa nach der französischen Revolution oder auch 1819), bewahrte man die Unterschicht vor der überflüssigen Aufklärung.


Vergleiche hierzu auch: Geschichte und Wesen des Urheberrechts

Geistiges Eigentum v. Intellectual Property

Google Books bietet mit seinen statistischen Möglichkeiten und dem Ngram Viewer interessante Einblicke, wie oft Begriffe über einen längeren Zeitrum in den Büchern verwendet wurden. Für diese quantitativen Untersuchungen wurde von einigen Wissenschaftlern bereits ein Begriff erfunden: Culturomics.

Geistiges Eigentum

Nimmt man die Begriffe Geistiges Eigentum und das englische Pendant Intellectual Property, sind die Abweichungen der jeweiligen Entwicklungen immens. Dabei zeigen sich sehr interessante Unterschiede wie auch Parallelen.

In der Zeit von 1800 bis 2008 erlebte der Begriff geistiges Eigentum erst vor kurzem seinen neuen Höhepunkt. Der erste war um 1900 (1905), also just nach Inkrafttreten des BGB. Zwar wurden in die Zeit zwischen 1870/71 und 1900  auch die Gesetze über das Urheberrecht, das Patentrecht, den Musterschutz und das Markenrecht erlassen bzw. erneuert, jedoch fehlen im BGB praktisch sämtliche Bestimmungen zum den genannten Rechtsgebieten.

Geistiges Eigentum in Google Books 1800--2008

In der Rechtswissenschaft war es um 1880, als der Begriff zu seinem ersten Höhenflug in den Büchern ansetzte, weitgehend ausgemachte Sache, dass man den Begriff geistiges Eigentum als fachlich irreführend nicht nutzen sollte (auch wenn man sich über die Alternative nicht im Klaren war).

Allerdings wurde der Begriff geistiges Eigentum in Deutschland nicht ausschließlich im rechtlichen Sinne genutzt, sondern auch in der Bildung: Die Schüler sollten nicht nur das Wissen aufnehmen, sondern auch anwenden können. Erst dann sei das Wissen das „geistige Eigentum“ des Schülers oder Studenten geworden. Wer historische Konnotationen nicht beachtet, kann zu verzerrten Ergebnissen kommen.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kristallisierte sich die Umschreibung Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht als Zusammenfassung für die Rechtsgebiete  heraus.  In der Folgezeit ließ die Verwendung des Begriffs geistiges Eigentum nach, um erneut nach dem zweiten Weltkrieg — möglicherweise im Zusammenhang mit der Lobbyarbeit für die Neugestalung des Urhebergesetzes (1965) — einen neuen Aufschwung zu erleben. Der Höhepunkt war 1955. Ab Inkrafttreten des neuen Urhebergesetzes ließ die Nutzung wieder nach und stieg erst an, als auch der englische Begriff immer häufiger genutzt wurde.

So muss man bei diesen Statistiken vorsichtig sein: Wenn man den Begriff GRUR, die Abkürzung für „Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht“ (rote Linie in der folgenden Abbildung) dem geistigen Eigentum entgegensetzt, so scheint dieser Begriff die Diskussion vollständig zu beherrschen. Tatsächlich wird hier nur deutlich, dass die Verwendung des Begriffs GRUR stark zugenommen hat. Über das Verhältnis zum anderen Begriff geistiges Eigentum besagt die Statistik deshalb wenig, weil es eine Zeitschrift gibt, die sich GRUR nennt. Je öfter diese Zeitschrift zitiert wurde, desto höher ist deshalb auch der Wert in der Grafik. Allerdings lässt sich durchaus eine Korrelation mit dem Begriff geistiges Eigentum erkennen, also der Anstieg um 1950 (der allerdings auch mit dem Kartellrecht in Verbindung gebracht werden kann, denn zum 1.1. 1958 trat das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen in Kraft), sowie die erneute, ununterbrochene Zunahmen seit 1980.

GRUR in Google Books 1900--2008

Welche Aussagekraft solche Untersuchungen haben, steht auf einem anderen Blatt. Wer von dem aktuellen Verständnis eines Begriffs ausgeht, wird im Ergebnis nur die sehr begrenzte Erkenntnis über die Nutzung des Worts erzielen.  Die Kultur lässt sich mit einer rein quantitativen Methode kaum erfassen.

Andere, ganz erhebliche Ungenauigkeiten ergeben sich auch aus den Fehlern bei der Texterkennung. So wird beispielsweise eine auffällige Häufigkeit des Begriffs Immaterialgut angezeigt, die jedoch oft auf einer Verwechslung mit Immaterialität beruht.

Intellectual Property

Intellectual Property in Google Books 1800--2008

Der Begriff Intellectual Property begann erst um 1980 buchfähig zu werden. Während der Begriff bis 1900 praktisch kaum erschien und um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert nur kurzzeitig genutzt wurde, stieg die Zahl ab 1980 gewaltig an. Dabei muss man sich den Maßstab der beiden Grafiken vor Augen halten: In der deutschsprachigen Literatur endet die Skala bei 0,0006 Promille  (0,00006 %), in der englischsprachigen Literatur bei 0,004 Promille (0,0004%).

Trittbrettfahrer und Freerider

Interessant scheint auch die in Deutschland noch immer vorhandene Steigerung des Begriffs Trittbrettfahrer, der inzwischen im Englischen seinen Höhepunkt überwunden zu haben scheint.

Trittbrettfahrer in Google Books 1950--2008

Dieser Begriff Trittbrettfahrer wird oft zur Begründung von Monopolpositionen wie sie das geistige Eigentum schaffen kann benutzt und dient nicht nur den Presseverlegern bei ihrem unverhohlen geäußerten Wunsch nach mehr Geld bei der Überzeugungsarbeit.

Freerider in Google Books 1950--2008

Der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger begründet den von ihm vorgetragenen Wunsch nach einem Leistungsschutzrecht mit einer zirkulären Argumentation: „durch die Nicht-Verfolgbarkeit der Rechtsverletzungen entgehe ihnen bares Geld„. Gemeint sind die deutschen  Zeitungs- und Zeitschriftenverlage, die keine eigenen Rechte haben (sondern nur die von den Urhebern abgeleiteten) und folglich auch keinen eigenen Rechtsverletzungen, die sie verfolgen könnten, zu beklagen haben.

Dabei lenken die Verlage von der Tatsache ab, dass sie auf einem bereits weitgehend gesättigten Markt tätig sind. Ihre besondere Leistung, mit der sie sich geltend machen wollen, wird  von den Kunden offenbar als nahezu wertlos eingeschätzt (andernfalls würden die Kunden ja etwas dafür bezahlen). Modelle, bei denen die die Nutzer etwas für die Leistung der Verleger bezahlen, sind im Internet ja kein Unding. Ein Unding ist in einer freien Marktwirtschaft eher die Vorstellung der Verleger, dass ihre von den Kunden als wertlos eingeschätzte Leistung vom Staat durch die Hintertür versilbert wird.


Ergänzung [9. 1. 2010]:  Vgl. hierzu auch:

Economics in a Nutshell

Das Zitat von John Kenneth Galbraith: »Der moderne Konservative übt sich in einer der ältesten Beschäftigungen der  Moralphilosophie, das ist die Suche nach einer überlegenen moralischen Rechtfertigung für seinen Egoismus«, und viele mehr wurden in München zusammengestellt. Mitarbeiter von Prof. Dr. Ekkehart Schlicht haben eben diesem die Sammlung als Erinnerung an den Münchner Lehrstuhl Seminar für Theorie und Politik der Einkommensverteilung, den früher unter anderen Lujo Brentano und Max Weber innehatten, als Büchlein geschenkt. Wir dürfen Economics in a Nutshell hier einen breiteren Öffentlichkeit vorstellen, wofür wir Prof. Schlicht herzlich danken.

Wir wollen an dieser Stelle aber auch auf die jüngsten Veröffentlichungen von Prof. Schlicht hinweisen:

Sie finden die bislang veröffentlichten Arbeiten von Prof. Schlicht  hier: Veröffentlichungen

Reformation der Handwerksinnungen

Auszug aus Die Geschichte des Kurfürsten August von Sachsen in volkswirtschaftlicher Beziehung (1868) von Johannes Falke, der seit 1864 Archivar am Hauptstaatsarchiv in Dresden war.


Während der Regierung dieses Kurfürsten [August von Sachsen] hatte sich eine allgemeine Preissteigerung für die Producte der Land- und Forstwirthschaft sowohl wie des Bergbaus festgestellt, welche zur Folge hatte, dass auch die Handwerker ihre Erzeugnisse im Preise zu heben suchten. Als nach Ueberwindung der grossen Theurung zu Ende des sechsten und in den ersten Jahren des siebenten Jahrzehnts ein Abschlag der Getreidepreise eintrat, so dass dasselbe nach dem allgemeinen Zeugniss im Jahre 1578, »einige Jahre seither in gelindem und ziemlichem Preis« gestanden, erschienen die Preise in allen übrigen Zweigen der Volkswirthschaft, da sie nicht von der eingenommenen Höhe weichen wollten, in einem auffallenden Misverhältniss zu jenen. Mit dem Volk hatte auch die Regierung die Ueberzeugung, dass nach den Getreidepreisen sich auch alle übrigen richten und mit ihnen eben so schnell steigen wie fallen müssten, und schrieb deshalb das Stehenbleiben der gesteigerten Preise in den Handwerken bei fallendem Getreidepreis allein dem Eigennutz und der Habsucht der Producenten zu. Um diese Verhältnisse gründlich zu erforschen und die allgemeinen Preisverhältnisse mit denen des Getreides wieder in Uebereinstimmung zu bringen, beauftragte im Sommer 1578 der Kurfürst seine Räthe, von den Innungen zu Dresden schriftlichen Bericht über die Preisverhältnisse und deren Ursachen in jedem Handwerk besonders zu erfordern und dann solche Berichte zu einem Gesammtbericht zusammenzustellen.

Lucas Cranach: Kurfürst August v. Sachsen
August von Sachsen (Lucas Cranach d. J., um 1550, Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden)

Alle stimmten darin überein, dass das Getreide seither in billigem und erträglichem Preise stehe, dass aber alle übrigen Producte, insbesondre alle Arbeitsstoffe der Handwerke um das Doppelte, manche um das Dreifache seit 20–30 Jahren gestiegen seien. Dagegen wollte fast keine Innung die Preissteigerung ihrer Arbeitsergebnisse zugestehen, manche vielmehr einen Preisabschlag derselben gegen früher behaupten. Das Tuchmacherwerk berichtete, früher habe man den Stein Landwolle für 36 gr., 3 fl. oder 2 Thlr. gekauft, jetzt zahle man 1 ? 4 gr. bis 3 Thlr., und dabei wolle jeder Verkäufer sogleich bar bezahlt sein, den Stein Schmeer früher für 1 Thlr. oder 30 gr., jetzt 56–60 gr., den Kübel Weid früher für 10–12 fl., jetzt 25–28 fl., den Centner Gallnüsse früher für 12–15 fl., jetzt 26–32 f., den Centner Röthe früher für 4 fl., jetzt 81/2 fl.; auch Alaun und Weinstein, Schmalz, Honig, Weidasche, so wie alle zu Markt kommenden Waaren seien jetzt fast noch einmal so theuer wie früher, so dass von den 22 Handwerksmeistern 11 die Arbeit ganz hätten einstellen müssen.

Die Fleischhauer klagten, dass sie in Polen, Pommern, Schlesien, Böhmen und Lausitz, woher sie ihr Schlachtvieh holten, seit 30 Jahren mit unerhörten Zöllen beschwert seien; von einem Ochsen müssten sie in Oppeln 5 gr. und darnach in allen Städten und Dörfern bis eine Meile vor Dresden 4, 3 und 1 pf. zahlen, und in ähnlicher Weise von Schöpsen und Schafen. Vor 20 Jahren kostete ein Paar der besten Ochsen 16–18 fl., jetzt 32–40 fl., Kälber jetzt die geringsten 1 fl., ein dippoldiswaldisches Kalb aber 2-2-1/2 Thlr.; dennoch müssten sie jedes Kalbfleisch das Pfd. um 5 pf. geben und hätten auf ihre oft wiederholte Bitte, das Pfd. des bessern um 1 pf. theurer verkaufen zu dürfen, noch nie eine Antwort bekommen. Früher hätten ein Paar Schöpse zu Schwiebus und Grossglogau 1 fl. gekostet, jetzt kosteten sie über 2 Thlr. ohne die Zölle, ein Paar Schafe früher 12–18 gr., jetzt 26–30 gr., Lämmer früher 10–12 gr., jetzt 18–24 gr. Auch klagten sie, dass die Fremden und Landschlächter im Herbst, wenn das Vieh billiger sei, den Markt zu Dresden mit Fleisch überführten, um Johannis bei Theuerung der Viehpreise aber ihnen allein die Versorgung der Stadt überliessen. Dabei fehle es in Dresden an einer Viehweise, so dass, wenn sie nur 100 Ochsen in Vorrath komme liessen, jeder derselben in wenigen Wochen um 3–4 fl. schlechter geworden sei, während die Schlächter zu Leipzig für mehr als 1000 Ochsen vom Rath Weise hätten. In allen umliegenden Städten gäbe man das Rindfleisch das Pfd. für 9 pf., während sie nur 8 pf. nehmen dürften, und desshalb bei allen Ochsenhändlern in Spott und Verachtung gerathen seien.

Ochsenzubereitung bei der Krönung von Maximillian II. (1562)
Ochsenbraten bei der Krönung von Maximillian II.

Die Schuster meinten, früher habe Ochsenleder 1-1/2 Thlr. gekostet, jetzt koste es 3 Thlr., Kuhleder früher 30 gr., jetzt 60 gr., ein Kalbfell früher 4–5 gr., jetzt 18 gr., ein Stein Hanf früher 20 gr., jetzt zwei alte ?. (40 gr.); in demselben Masse sei alles Uebrige, was sie zum Handwerk brauchten, im Preise gestiegen, weil die Gerber von Bautzen, Görlitz, Zittau alle Felle und Leder rings um Dresden aufkauften und in die Sechsstädte und nach Schlesien führten. Ebenso klagten die Lohgerber über den Vorkauf und Wucher im Handel mit Fellen und Leder, die Bäcker über die Platz- und Kuchenbäcker, welche letzteren an allen Thoren und Thüren und auf allen Plätzen zu Dresden sitzen dürften, über die Böhmen und die Bäcker von Siebenlehn, die ungestört Brod hereinbrächten und Korn aufkauften; während kein andere Handwerk Störer leide, habe das Bäckerhandwerk zu Dresden am meisten davon zu leiden. Die Büttner und Tischler klagten über die Theurung des Holzes; früher habe eine Eiche in der dresdnerischen Heide 15 gr. gekostet, jetzt koste sie 2 Thlr., die Fuhre von daher früher 5 gr., jetzt 1 Thlr., ein Schock Fassholz an der Elbe früher 6 gr., jetzt 15–16 gr., eine Tanne früher 8, jetzt 18 gr., ein Stein Leim früher 15–18 gr., jetzt 2 fl. 6 gr.

Leipziger Jungfrau Jost Amman
Leipziger Jungfrau von Jost Amman aus: Im Frauenzimmer wirt vermeldt von allerley schönen Kleidungen und Trachten etc. (1586)

Die Schneider meinten, dass, während die Arbeit an einem Kleide wegen vermehrter Stickerei schwerer und langwieriger geworden sei, sie doch schlechter bezahlt werden als früher, denn sie erhielten auch jetzt für ein solche Kleid nur 1 Thlr. bis 30 gr.; auch sei der Hauszins von 6–7 fl. auf 15–18 fl. gestiegen. — Die Hutmacher klagten über die Steigerung der Wolle von 1-1/2 fl. auf 3 Thlr., der Karden, des Leims, des Hauszinses von 5–6 fl. auf 10–12 fl.; vor 16 Jahren habe ein Geselle in der Woche 6 braunschweigsche Hüte gemacht, deren jeder für 12–14 gr. verkauft wurde, jetzt mache er zwei aus der besten Wolle und gelte jeder nur 1 fl. oder 1 Thlr., doch dem Bauersmann müssten sie die Hut immer noch um den alten Preis geben. — Die Weissgerber, Sattler, Beutler, Buchbinder klagten über die Steigerung der Felle und des Leders; das Hundert weisser Leder sei von 10 fl. auf 21 fl. gestiegen, Schaffelle von 20 auf 28 fl., Kalbfelle von 20 auf 35 Thlr., Bocksleder von 35 auf 50–55 Thlr., Schweinsleder das Buschel von 30 gr. auf 3 Thlr. — Auch werden, meinten die Buchbinder, ein Buch zu binden nicht mehr bezahlt als früher, und sei jetzt nichts unwerther und verächtlicher als die Bücher und der Handel mit denselben durch Hausirer verdorben. — Die Huf-, Messer- und Nagelschmiede, die Schwertfeger, Sporer, Büchsen- und Uhrmacher klagten über die Steigerung eines Steins Eisen von 5 und 5-1/2 gr. auf 8 gr. 8 pf., eines Pfundes Stahl von 8 pf. auf 18–20 pf., eines Kübels Holzkohlen von 8 pf. auf 3 gr., der Tonne Steinkohlen von 1-1/2 gr. auf 3-1/2 gr., eines Schragens (3 Klafter) Holz von 2 Thlr. auf 6 fl. Den Kupferschmieden war der Ctn. Kupfer von 10 auf 15 fl. gesteigert, den Fischern ein Paar Wasserstiefeln von 1 auf 3 fl., ein Kahn von 1-1/2 Thlr auf 4 Thlr., den Maurern dagegen der Wochenlohn von 30 gr. auf 18 gr. gesunken.

Saxonia Superioris Lusatiae
Schlesien, die Lausitzen und Sachsen im 17. Jahrhundert, Karte von Gerhard Mercator und Henricus Hondius

Der Kurfürst kam bald zu der Ueberzeugung, dass auf Grundlage dieser Berichte keine neue Ordnung zu machen sei, und befahl desshalb am 12. Septbr. 1578, durch die Innungsmeister aus jedem Handwerk zwei Meister wählen zu lassen, die bei Eid und Pflicht eine Satzung machen sollten, wie jede Arbeit zu geben und zu verlohnen sei. Am 18. Septbr. mussten sämmtliche Handwerksmeister schwören, dass die aller Steigerung der Waaren in ihrem Handwerk vorkommen, alle Arbeit zu billigem Preis geben und, so oft sie erfordert würden. mit Rath und That zur Aufrichtung guter Ordnung helfen und die übertheuerten Waaren nach billigem Werth schätzen wollten. Zugleich mussten die Innungen für alle ihre Arbeitserzeugnisse Taxen aufsetzen, welche aber sämmtlich vom Kurfürsten als zu hoch gegriffen verworfen wurden, worauf er dann am 9. Octob. 1578 an den Rath von Dresden ein Rescript folgenden Inhalts erliess: Obwohl die Materia, welche die Handwerker gebrauchen, etwas mehr als vor Alters gestiegen sei, sei es doch nicht so hoch, dass sie eine solche übermässige Steigerung zu machen Ursache hätten, auch sei das Getreide eine gute Zeit her in ziemlichem Kauf gewesen. Sie sollten desshalb forthin alle Artikel über Ordnung und gute Zucht einhalten, die unvermögenden Lehrjungen ohne Lehrgeld gelehrt werden, doch dafür etwa länger dienen, und keine Morgensprachen ohne Beisein eines vom Rathe mehr gehalten werden. Weil aber eine gewisse Taxe aller Arbeit eigentlich nicht angestellt werden könne und die übergebenen alle zu hoch seien, so sollte dieselbe in der Geschwornen Pflicht gestellt werden. Darauf folgten Antworten und Verordnungen auf die Beschwerden der einzelnen Zünfte, z. B. Schreiben an die Räthe von Leipzig und Naumburg wegen Abstellung des Betrugs im Pelzhandel, an eine Anzahl Nachbarstädte wegen Gleichstellung ihrer Fleischtaxe mit der zu Dresden. Die Handwerker, welche bestellte Arbeiten in der versprochenen Zeit nicht fertigten, sollten gestraft, die Strafe der Bäcker, nach welcher sie für jedes am Bridgewicht fehlende Loth 5 gr. zu zahlen hatten, geschärft, und auch die Kornhändler, welche den armen Bäckern Korn und Weizen auf Borg theuer aufhängen würden, gestraft werden. Die Schuster, Gerber, Tuchmacher, Kürschner, Leinweber und andre wurden getadelt, weil die die Waaren theurer gäben, als von Alters, die Maurer und Ziegeldecker, weil sie sich mit dem geordneten Lohn nicht begnügten und für einen Lehrjungen so viel Lohn ansetzten wie für einen Gesellschen. Alle vierzehn Tage sollte eine Schau der Schuhe und Stiefeln, der gegerbten Leder, Tuche, Felle, Leinwand u. a. Waaren gehalten und wenn die Mängel nicht abgeschafft würden, durch unverdächtige Personen eine Probe des Handwerks angestellt und darnach der Steigerung gesteuert werden. Eine solche Handwerksprobe wurde auch wirklich zu Anfang des folgenden Jahres gegen die Schuhmacher ausgeführt. Die beiden zu Hof geschworenen Schuhmachermeister mussten nehmlich eine Rindshaut, zwei Kuhleder, Kalbs- und Schaffelle mit allem Zubehör kaufen und dieselben in Gegenwart von zwei Rathsherren und drei anderen Meistern des Handwerks zu Manns-, Frauen-, Knaben- und Mädchenschuhen, zusammen 26 Paar, zerschneiden und diese Schuhe durch fünf Schuhknechte gegen einen Tagelohn von 8 pf. für jeden und entsprechender Kost fertigen lassen. So kamen die Schuhe zusammen auf 10 fl. 20 gr., nach Abzug des übrig gebliebenen Materials auf 10 fl. 3 pf., im Durchschnitt aber jedes Paar Schuhe auf 8 gr. 4 pf. 1-3/13 h. Als nun aber auf Befehl des Raths die geschworenen und ältesten Meister des Handwerks, ohne die Rechnung de beiden Meister zu kennen, die Schuhe bei Eid und Pflicht schätzen sollten, taxierten die die 26 Paar Schuhe zusammen auf 7 fl. 14 gr. 3 pf., als ein Paar Mannsschuhe zu 7 gr. bis 7 gr. 6 pf., ein Paar Frauenschuhe zu 5 gr. bis 5 gr. 6 pf., ein Paar Knabenschuhe 5 gr. bis 5 gr. 6 pf. und das Paar Mägdeschuhe zu 3 gr. 3 pr., demnach hatte man, so wurde geschlossen, 2 fl. 14 gr. 9 pf. mehr auf die Schuhe verwandt, als sie werth waren. Und noch dazu waren diese Schuhe nach der von der Innung aufgestellten, vom Kurfürsten verworfenen Taxe geschätzt, ein Beweis also, dass, da jene Arbeitern nach allgemeinem Brauche verlohnt und verköstigt wurden und eben so viel arbeiten mussten wie andre, eine Preissteigerung innerhalb dieses Handwerks durchaus gerechtfertigt war.


Aus Johannes Falke: Die Geschichte des Kurfürsten August von Sachsen in volkswirthschaftlicher Beziehung, Lepzig: 1868.

Die Preisfrage ist nun: Wer hat in diesem verwirrenden Zahlenspiel verloren?

Gustav von Schmoller hat dies 1896 bündig beantwortet: „Die komplizierte Wochenmarkts- und Vorkaufsgesetzgebung ist in Summa nichts als ein raffiniertes System, Angebot und Nachfrage zwischen kaufendem Städter und verkaufendem Landmann so zu gestalten, daß der erstere in möglichst günstiger, der letztere in möglichst ungünstiger Position beim Konkurrenzlaufe sich befinde.“

Anthropometrische Geschichte der Französischen Revolution

Untersuchungsgegenstand der Arbeit von Hermann Schubert ist die Entwicklung des biologischen Lebensstandards der französischen Bevölkerung während des 18. Jahrhunderts und der Einfluss dieser Entwicklung als Ursache für den Ausbruch der Französischen Revolution.

Die Debatte um die Entwicklung des Lebensstandards der französischen Bevölkerung im 18. Jahrhundert wird vorwiegend anhand von Preisanalysen und den Durchschnittseinkommen geführt. Die Messung der Realeinkommen stellt allerdings die Wissenschaft vor ein erhebliches Problem:

Im 18. Jahrhundert wurden nur unzureichend systematische Aufzeichnungen von Nominallöhnen und Preisen angefertigt. Ein beträchtlicher Anteil der Lohnsumme, insbesondere von ländlichen Tagelöhnern, wurde in Naturalien ausbezahlt, die heutzutage kaum nachvollzogen werden können. Wichtiger als die Höhe der Reallöhne erscheint für das 18. Jahrhundert jedoch die Verfügbarkeit von Arbeit gewesen zu sein.

Anthropometrische Geschichte der französischen Revolution
Hermann Schubert: Anthropometrische Geschichte der französischen Revolution

Die Veränderung des Reallohnes beeinflusste den Lebensstandard oft in einem geringeren Maße als die Veränderung der jährlichen Beschäftigung, die bei durchschnittlich 200 Arbeitstagen lag. Verlässliche Daten zum Ausmaß der Unterbeschäftigung liegen jedoch nicht vor.

Die Preisanalyse als Methode zur Beurteilung der Entwicklung des Lebensstandards lässt einen weiten Spielraum von unterschiedlichen Interpretationen zu. Aus diesem Grunde hat der Autor sich für eine alternative Methode zur Untersuchung der Entwicklung des Lebensstandards der französischen Bevölkerung im 18. Jahrhundert entschieden: die Anthropometrie. Die anthropometrische Methode erlaubt eine direkte Messung des Wohlbefindens einer Gesellschaft, da sie über die Entwicklung der durchschnittlichen Körpergröße Rückschlüsse auf deren Ernährungssituation erlaubt. Da im 18. Jahrhundert die Ausgaben für Nahrungsmittel einen hohen Anteil des verfügbaren Einkommens ausmachten, ermöglichen die Ergebnisse einer anthropometrischen Untersuchung zudem Schlüsse hinsichtlich der Entwicklung der Realeinkommen. Hermann Schubert zeigt, dass die französische Gesellschaft eine langfristige Reduktion ihres biologischen Lebensstandards im Laufe des 18. Jahrhunderts hinnehmen musste, die ihre Spuren in stark gefallenen durchschnittlichen Körpergrößen hinterließ.

Thomas Malthus
Der britische Nationalökonom und Sozialphilosoph Thomas Malthus hat mit seiner Bevölkerungstheorie unter anderem die Grundlagen für Darwins Evolutionstheorie geschaffen

In einem Vergleich stellt Hermann Schubert seine gewonnenen Ergebnisse mit den Resultaten alternativer anthropometrischen Studien europäischer Staaten gegenüber und kommt zu dem Schluss,  dass die Verschlechterung der Ernährungssituation ein europäisches Phänomen war, deren Ursachen nicht innerhalb von Staatsgrenzen zu suchen sind, sondern europaweit wirkten. Als mögliche Ursachen dieser Entwicklung kommen die expansive Bevölkerungsentwicklung  und / oder die Verschlechterung der klimatischen Bedingungen, die in ganz Europa zu beobachten waren, in Betracht.

Im abschließenden Teil der Arbeit nimmt Hermann Schubert eine Neuinterpretation der Ursachen der Französischen Revolution vor und zeigt, dass ein Malthusianisch-Ricardianisches Modell in Verbindung mit den Ergebnissen der Institutionenökonomie eine konsistente Erklärung für die langfristigen wirtschaftlichen, aber auch kurzfristigen politischen Ursachen der Französischen Revolution liefert.

Hermann Schubert hat in seiner Analyse einen  neuen wissenschaftlichen Beitrag zur Klärung der Ursachen der Französischen Revolution mittels bislang unbekannter Daten geleistet.


Prof. Dr. John Komlos (LMU München) zu dem Buch Anthropometrische Geschichte der Französischen Revolution:

„A revised perspective on the french revolution: For the first time, an anthroprometric analysis provides a precise measure of the role population growth and nutrition played in unleashing the tremendous social forces that changed world history forever. A major contribution to economic history.“

Der Spiegel berichtete über die Forschungsergebnisse von Hermann Schubert (zum Spiegel):

„Kastanien statt Kuchen
Warum ist die Französische Revolution wirklich ausgebrochen? Ein Münchner Wissenschaftler legt Daten vor, die genau zeigen, wie sehr das Volk hungerte.“ (Der Spiegel, Kastanien statt Kuchen, 36/2009, S. 106).

Die FAZ berichtete am 03.08.2009 in dem Artikel „Revolution der Kleinwüchsigen“.

Die Arbeit wurde ausführlich in der wirtschaftshistorischen Fachzeitschrift Annales de demographie historique von Laurent Heyberger (Laurent Heyberger, Annales de demographie historique, Nr. 116, S. 297 ff., Paris 2008) und in der deutschprachigen Vierteljahrzeitschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (Linda Twrdek, Vierteljahreszeitschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 96. Band, Heft 3 (2009), S. 409) besprochen.


Lesen Sie hier weiter: Hermann Schubert: Anthropometrische Geschichte der Französischen Revolution

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Historischer Überblick — Serbien

Einführung Jugoslawien (Südslawien) ist über lange Jahrhunderte hinweg ein Grenzland. Bereits in der Spätantike verläuft hier an der Drina die wichtige Grenze zwischen dem west- und oströmischen Reich, zwischen dem römisch-katholischen und dem orthodoxen Christentum. Die Drina bildet in der Osmanenzeit auch die Scheidelinie zwischen dem Christentum und dem Islam.
Ursprung Seit etwa 1000 v. Chr. war die Region von den Illyrern besiedelt, die um etwa 700 v. Chr. zunächst unter griechischem, später unter römischem Einfluss standen 300 Jahre v. Chr. begannen die Römer ausgehend von der Küste die Gegend zu unterwerfen und gründeten die Provinzen Dalmatia (Dalmatien) und Moesia superior (Mösien).
300-700 In dieser Zeit fanden Wanderungen der slawischen Völker (u. a. Serben, Kroaten, Slowenen, Bulgarien und Makedonier) auf die Balkanhalbinsel statt. Im Rahmen der Teilung des römischen Reichs fiel das Gebiet 395 an Byzanz. Ab dem 7. Jh. ließen sich südslawische Serben nieder.
700-1200 Interne und externe Auseinandersetzungen führten dazu, dass sich die slawischen Stämme nicht einigen konnten. Nur in Kroatien (unter Tomislaw) bildete sich 925 ein unabhängiges Königreich, das seinen Machtbereich auch auf Slowenien ausdehnte, bis es 1091 mit Ungarn vereinigt wurde. Das jugoslawische Gebiet stand fast ununterbrochen entweder unter byzantinischer oder unter bulgarischer Herrschaft. Ragusa (Dubrovnik) fiel mit Aufstieg der einflussreichen Handelsstadt unter venezianische Herrschaft. Stephan Nemanja erreicht um 1180 das erste unabhängige serbische Königreich Serbien (Raszien); sein Sohn erhielt 1217 von Papst Honorius III. die Königskrone.
1220-1355 1282 fiel das Kernland Sloweniens, die Krain, an die Habsburger und blieb bis 1918 zu einem erheblichen Teil österreichisch.

Unter Stephan Dusan (Regierungszeit 1331-1355) eroberte das Reich einen Großteil des heutigen Serbien und Montenegro, Makedonien, Thessalien, Albanien und Epirus. Skopje – heute Hauptstadt Makedoniens – war in dieser Zeit der größten Ausdehnung des serbischen Reichs Hauptstadt. Dusan ließ sich 1346 zum Zaren der Serben, Albaner, Griechen und Bulgaren krönen. Nach dem Tod Dusans verfiel das große Reich rasch.

Europa im 12. Jahrhundert
Europa im 12. Jahrhundert
1355-1800 Die Osmanen drangen in dieser Zeit tief nach Zentraleuropa vor. 1389 wurden die Serben von den Osmanen im Kosovo auf dem Amselfeld (Kosovo-Polje) vernichtend geschlagen. Schließlich nahmen die Türken 1459 Smederevo südlich von Belgrad ein und Serbien fiel unter türkische Herrschaft. 1463 eroberten die Türken Bosnien; 1482 schließlich die Herzegowina. Die Türken besetzen Bosnien, die Habsburger behielten Nordkroatien und Slowenien, die Venezianer Dalmatien. Herzegowina, Montenegro und Ragusa behielten ihre Unabhängigkeit.

Der Widerstand gegen die Türken fand seinen Ausdruck in den serbischen Bergstämmen Montenegros, der serbisch-orthodoxen Kirche und den Haiduken (Räuberkriegstum).

Durch den Frieden von Karlowitz (1699) und Passarowitz (1718) wurde die Save-Donau-Linie zur grenze zwischen den Serben unter österreichisch-ungarischer und osmanischer Herrschaft.

ab 1800 Im 19. Jahrhundert vertieften sich die heftigen Gegensätze zwischen den christlich-orthodoxen Serben, der muslimischen Mehrheit in Bosnien und den christlich-orthodoxen und muslimischen Makedoniern. Dazu kamen noch die österreichisch-ungarischen Kroaten, die katholischen Slowenen und die nicht-südslawischen Völker (Albaner, Ungarn, Türken, Italiener). Die Großmächte Österreich und Russland drängten die Osmanen aus Südosteuropa.

Es begann der serbische Freiheitskampf gegen die Janitscharen von Belgrad unter der Führung des Viehhändlers George Petroviç, genannt Karadjordje (Karadordejvic). Die durch den Frieden von Bukarest 1812 gewonnene Autonomie nahm der osmanische Sultan 1815 wieder zurück.

Eine neue Erhebung unter Milo Obrenoviç führte 1815 innerhalb weniger Monate erneut zur Autonomie. Fast ganz Serbien wurde von der türkischen Herrschaft befreit. Obrenoviç wurde 1817 als Erbprinz anerkannt, und Serbien erhielt begrenzte Autonomie unter der Oberhoheit des Sultans. Durch den Vertrag von Adrianopel nach dem Russisch-Türkischen Krieg (1828-1829) erhielt Serbien größere Autonomie, und die Anzahl türkischer Garnisonen wurde verringert.

1817-1877 Obrenoviç war 1817 an der Ermordung Karadjordjes beteiligt. Dies führte zu einer erbitterten Rivalität zwischen den beiden Dynastien. Milos Obrenoviç, ein autoritärer Herrscher, wurde 1839 gezwungen abzudanken. Nach kurzer Regierungszeit der Söhne Milan und Michael wurde 1842 Karadjordjes Sohn Alexander durch die Skupschtina zum Fürsten gewählt. Unter ihm entwarf Garasanin 1844 das großserbische Programm, die Vereinigung aller Südslawen innerhalb der Donaumonarchie nuter serbischer Führung. 1858 wurde Alexander Karadjordje durch die Skupschtina abgesetzt und die Obrenoviç-Dynastie mit Milos Obrenoviç kam wieder an die Macht. Michael Obrenoviç, Sohn des Milos, erreichte 1867 den vollständigen Rückzug der Türken aus Serbien (Räumung der Festungen). Er stützte sich auf groß-serbische Omladina-BWwegung zur Vereinigung aller Südslawen in Kroatien. 1868 wurde er durch Anhänger der Karadordejvic ermordet, sein Neffe Milan I Obrenoviç wurde sein Nachfolger.
1878-1903 Auf dem Berliner Kongreß (1878), der zur Vermittlung zwischen den Großmächten einberufen wurde, sollte der Balkan neu gestaltet werden: Rumänien, Serbien und Montenegro wurden selbständig, Makedonien der Türkei zugesprochen und Bosnien und die Herzegowina der Verwaltung Österreichs unterstellt.

Während des Russisch-Türkischen Krieges von 1877 bis 1878 verbündeten sich Serbien und Russland innerhalb der panslawischen Bewegung, um die Türken auf dem Balkan zu besiegen. 1878 wurde auf dem Berliner Kongress die volle Unabhängigkeit Serbiens anerkannt und eine Gebietserweiternug nach Süden um die Gebiete Pirot, Nis und Vranje durchgeführt. Bosnien, die Herzegowina und Novi Pazar wurden nicht von Serbien gewonnen.

Mit österreichischer Hilfe proklamiert Milan 1882 das Königreich Serbien und ernannte sich selbst zum König. Er erklärte nach der Vereinigung Bulgariens mit Ostrumelien 1885 Bulgarien den Krieg. Die Serben wurden vernichtend geschlagen, eine Intervention Österreichs im Frieden von Bukarest (1886) verhinderte Gebietsverluste. Milan dankte zugunsten seines Sohnes Alexander ab.

1903-1912 Alexander I. Obrenoviç wurde infolge seiner autoritären und korrupten Herrschaft 1903 durch eine Offiziersverschwörnug ermordet. Die Nationalversammlung wählte Peter Karadjordjeviç (Peter I., 1903-1918) zum König. Nikola Paiç übernahm als Ministerpräsident die Führung der Außenpolitik und kehrte zu einer großserbischen, gegen Österreich-Ungarn gerichteten Politik zurück.

Die serbisch-österreichischen Beziehungen verschlechterten sich erheblich während des so genannten Schweinekrieges von 1905 bis 1907, einer Auseinandersetzung, die auf einer von Wien verhängten Viehimportsperre (über 80 % der Ausfuhr Serbiens) beruhte.

Der Konflikt spitzte sich nach 1908 weiter zu, nachdem Österreich Bosnien und Herzegowina annektiert hatte. Der Verfall des Osmanischen Reichs und die jungen Staaten mit nationalen Zielen, die unterschiedlichen Volksgruppen, den Balkan durchlaufende Volks- und Religionsgrenzen und andauernde Minderheitenprobleme führen zu ständigen Unruhen in dem Gebiet. Die Großmächte sind direkt (Österreich-Ungarn, Italien und Russland) oder indirekt (Deutschland, Frankreich, Großbritannien) in diese Konflikte verwickelt.

1912-1913 1912 und 1913 nahm Serbien aktiv an den Balkankriegen teil, einer militärischen Auseinandersetzung zwischen den christlichen Balkanstaaten und dem Osmanischen Reich. Der erste Balkankrieg war motiviert durch das Ziel, das türkische Makedonien aufzuteilen. Nach dem die Türkei 1913 eine Niederlage erlit, vermittelten die Großmächte – die Türkei musste alle ihre europäischen Besitzungen bis auf einen Gebietsstreifen um Konstantinopel (Linie Enos-Midia) aufgeben. Albanien wurde erstmals zu einem unabhängigen Fürstentum erklärt. Dadurch wurde die Strategie Serbiens, einen eigenen Adriahafen zu erlangen, durchkreuzt.

Der Streit um die Aufteilung Makedoniens zwischen Serbien und Bulgarien führte zu dem zweiten Balkankrieg. Bulgarien, das die Hauptlast des Krieges getragen hatte, wurde nach einem Angriff auf Serbien aus Mekdonien vertrieben. Nachdem Rumnien mit Ansprüchen auf die Süddobrudscha in den Krieg eingriff, trat Bulgarien im Frieden von Bukarest (1913) den Großteil der vorherigen Gewinne, nämlich das nördliche Makedonien an Serbien, die Süddobrudscha mit Silistra an Rumänien und die ägäische Küste an Griechenland ab. Serbien erhielt neben Makedonien auch die Bezirke Sanjak Novi Pazar und Kosovo-Mitohijan.

Der Friede von Bukarest brachte jedoch keine Entspannung der Lage, da den Serben weiter der Zugang zur Adria verwehrt wurde.

1914-1918 Die Situation war am 28.Juni 1914 bereits äußerst angespannt, als der österreichische Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, und seine Frau von dem serbischen Nationalisten Gavrilo Princip in Sarajevo (Bosnien und Herzegowina) ermordet wurden. Österreich erklärte Serbien daraufhin den Krieg, marschierte im August in das Land ein und löste so den 1.Weltkrieg aus. 1914 wird Serbien in der deutschen Öffentlichkeit als Drahtzieher für den Mord am österreichischen Thronfolger angesehen. „Serbien muß sterbien“ ist in den ersten Kriegswochen in Österreich wie in Deutschland eine gängige Straßenparole. Die Serben konnten die Angreifer bis Oktober 1915 abwehren, bis Bulgarien ebenfalls in Serbien einmarschierte. Im Dezember war das Land von den Mittelmächten besetzt.

Das 1915 in London gegründete Jugoslawische Komitee und die serbische Regierung unter dem Minsterpräsidenten Nikola Paiç erließen 1917 die Deklaration von Korfu, ein Fortsetzung des 1844 von Garasanin entworfenen großserbischen Programms.

1918-1941 In Agram (Zagreb) proklamierte im November 1918 ein Nationalrat den Zusammenschluss der Volksgruppen mit dem Königriech Serbien und Montenegro. Am 1. Dezember 1918 verkündete Prinzregent Alexander aus der Dynastie der Karadjordjes das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (Kraljevaina SHS). Diverse internationalen Verträgen (Saint-Germain, Trianon, Neuilly, Rapallo) gewann das neue Königreich Gebiete hinzu, verlor zugleich Fiume an Italien. Alexander Karadjordjes wurde 1921 König.

Der neue Staat stand von Anbeginn an unter starker innenpolitischer Belastung, die durch die unterschiedlichen Volksgruppen und gesellschaftlichen Strukturen hervorgerufen waren, besonders bei den Serben und Kroaten. Die Serber waren größtenteils orthodox und von balkanischer Kultur, die Kroaten römisch-katholisch und westlicher Kultur. Das Reich hatte rd. 13 Mio. Einwohner, darunter auch nichtslawische Minderheiten (im Norden deutsche Volksgruppen, eine ungarische Volksgrppe und im Süden albanische und türkische Minderheiten). Die Slowenen und Kroaten wollten sich nicht den zentralistischen Absichten der Serben, die die größte ethnische Gruppe stellten, anschließen. Besonders kompliziert war die Lage in Bosnien und Herzegowina. Dort gab es zwei ethnische Gruppen: Serben und Kroaten, ferner die religöse Gruppe der Muslime, die über die Hälfte der Bevölkerung ausmachten. 1921 setzten die Serben ihren Führungsanspruch durch, da ie zentralistisch geprägte Vidovdan-Verfassung erlassen wurde.

Diese Zersplitterung verhinderte eine stabile Regierung mit der Folge häufiger Wechsel bei der Regierung, politischen Attentate oder etwa Verweigerung von Parteien an der Mitarbeit im Parlament. Im Januar 1929 errichtete der 1934 ermordete König Alexander die Königsdiktatur. Das Land wird Jugoslawien (Südslawen) genannt. Alle Parteien wurden aufgelöst, 1931 eine neue Verfassung erlassen. Nach seinem Tod übte Prinz Paul für den minderjährigen Thronfolger Peter die Regentschaft aus. Zu Beginn des 2. Weltkriegs blieb Jugoslawien neutral. Die Konflikte in der Bevölkerung spitzten  sich immer weiter zu, Ende der 30er Jahre kam es immer häufiger zu Scharmützeln und Anfeindungen zwischen einzelnen Volksgruppen.

1941-1947 1941 griffen deutsche und italienische Truppen Jugoslawien an und besetzten es. Sie errichteten einen selbständigen faschistischen Staat „Unabhängiges Kroatien“ (Ustatscha), zu dessen Gebiet auch Bosnien und Herzegowina gehörte. 1941 bildeten sich verschiedene Partisanengruppen, die aber nicht nur die deutschen und italienischen Besetzer, sondern sich auch untereinander bekämpften: die Ustatscha-Bewegung, die königstreuen Cetnici, die Gruppe um Oberst Mihailovic und die kommunistische Volksbefreiungsarmee unter Josip Broz (Marschall Tito). Die Ustascha betrieb während des 2 Weltkrieges eine brutale Politik der ethnischen Säuberung, auf die Tito mit ähnlichen Mitteln reagierte.

Josip Broz Tito
Josip Broz Tito

1943 gewannen die Kommunisten unter Tito die Oberhand im Land. Tito bildete 1943 eine provisorische Regierung mit der Volksfront (KPJ, ab 1952 Bund der Kommunisten Jugoslawiens). Der Friedensvertrag von Paris führte dann zur Herstellung des Staates in den Grenzen von 1941, erweitert um die bislang italienischen Gebiete Istrien und Dalmatien.

Mit einer Bodenreform (Aug. 1945), der neuen Verfassung (1946), Ausrufung der Republik (Nov. 1945), Verstaatlichung der Wirschaft (1947) und Ausschaltung aller innenpolitschen Gegner erhilet Jugoslawien eine kommunistische Gesellschaftsstruktur. Die Föderative Volksrepublik Jugoslawien wurde 1945 Gründungsmitglied der UNO. Föderativ war das Land, weil aus den Sozialistischen Republiken Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Makedonien, Montenegro, Serbien und Slowenien besteht.

1947-1990 Tito weigerte sich, den Machtanspruch Stalins und die alleinige Führungsrolle der sowjetischen Kommunistischen Partei anzuerkennen. Dieser Konflikt führt zum Bruch mit dem restliche Ostblock. Die Kominform schloss Jugoslawien 1948 aus. Die UdSSR kündigte zugleich den Freunschafts- und Beistandspakt von 1945. Aufgrund der Wirtschaftsblockade durch den Ostblock suchte Jugoslawien westliche Hilfe und schloss 1954 mit der Türkei und Griecheland den Balkanpakt. Das Land wurde auf der Basis einer weitgehenden Selbstverwaltung verwaltet. Die nationalen Spannungen wurden durch föderative Struktur des Staates gebändigt. Um die starke Republik Jugoslawien nicht die Überhand gewinnen zu lassen, wurden 1974 auf deren Gebiet die autonomen Provinzen Kosovo mit Pristina als Hauptstadt und Wojwodoina mit Novi Sad als Hauptstadt gegründet.

Tito wurde zum Staatspräsident auf Lebenszeit bestimmt. Nach seinem Tod sollte sollte der Vorsitz im Präsidium jährlich nach einer festgelegten Reihenfolge unter den Bundesrepubliken wechseln. Dies sollte politische Stabilität in dem Vielvölkerstaat für die Zeit nach Titos Tod sichern.

Nach Titos Tod übernahm das Präsidium der Republik (8 Mitglieder aus je einem Vertreter der sechs Teilrepubliken und der zwei autonomen Provinzen) die Regierung. Mit dem Zerfall des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens gelang es nicht mehr, das gesamte Staatsgefüge auf neue Grundlagen zu stellen. 1980 kam es zu Unruhen, begehrten im Kosovo rd. 2 Mio. Albaner die Unabhängigkeit von Serbien. In dieser Zeit wurde der spätere serbische und jugoslawische Präsident Slobodan Milosevic immer mächtiger. 1984 machte ihn sein Ziehvater Ivan Stambolic (Vorsitzender der serbischen Sozialischen Partei) zum Leiter der Belgrader Regionalgruppe. Seit 1987 war er Präsident von Serbien. Die Unruhen in Albanien dauerten in dieser Zeit an und Milosevic fordert 1989, die Autonomie des Kosovo und der Wojwodina wieder aufzuheben. Als Stambolic sich dem widersetzt, stürzt Milosevic den Vorsitzenden und wird 1990 selber zum Vorsitzenden der Sozialistischen Partei Serbiens und zugleich zum mächtigsten Mann in Jugoslawien. Stambolic verschwand im September 2000 spurlos.

1990
Slobodan Milosevic
Slobodan Milosevic

1990 kam es zur Aufhebung der Autonomie von Kosovo und Wojwodina. Die Kommunistische Partei Jugoslawien verzichtete auf ihre Vormachtstellung in Jugoslawien. Milosevic schlägt in dieser Zeit offen einen großserbischen, nationalistischen Kurs ein, der die Unabhängigkeitbestrebungen Sloweniens und Kroatiens noch weiter förderte. Serbien versuchte durch militärischen Druck den Bestand der Föderation zu retten. Ziel war es, die dominierende Position Serbiens zu wahren und die serbischen Minderheiten in den anderen Republiken zu schützen.

1991 Nach der Erklärung der Souveränität Sloweniens und Kroatiens stürtzt die ganze Region Mitte 1991 in einen Bürgerkrieg, in dem Serbien (über die serbisch dominierte föderative jugoslawische Volksarmee) kroatische und bosnische Serben unterstützte, die die Schaffung eines Großserbien anstrebten. Die jugoslawische Bundesarmee rückte Ende Juni 1991 in die abtrünnigen Gebiete vor, um sie im Staatenbund zu halten. Sie zog um die slowenische Hauptstadt einen Belagerungsring und nahm die Grenzstationen unter ihre Kontrolle. Kurz darauf beschloss die jugoslawische Regierung nach Intervention der Europäischen Gemeinschaft und einer vorübergehenden Kpompromisslösung die Soldaten innerhalb 3 Monaten aus Slowenien abzuziehen. In Kroatien wurde keine so schnelle Lösung gefunden. Am 26. August 1991 griff die jugoslawische Bundesarmee die kroatische (ostslawonische) Stadt Vukovar an mit Panzern an, am 07. Oktober wurde die kroatische Hauptstadt Zagreb von der jugoslawischen Luftwaffe bombardiert. Nach zahlreichen gescheiterten Waffenruhen und der Verhängung begrenzter Sanktionen über Serbien durch die Europäische Gemeinschaft wurde schließlich am 23. November ein Waffenstillstand zwischen Serbien und Kroatien unterzeichnet.
1992-1999 Ende 1991/Anfang 1992 erkannten die Staaten der EG Slowenien und Kroatien als souveräne Republiken an. Ende April 1992 kam es zur endgültigen Abspaltung. Im Frühjahr 1992 begannen in Bosnien-Herzegowina Kämpfe: Die Bosnier verlangten nach einer Volksabstimmung auch die Unabhängigkeit. In Bosnien-Herzegowina leben Kroaten, Serben und (moslemische) Bosnier. Jede dieser 3 Volksgruppen wollte die Herrschaft über Bosnien und Herzegowina erlangen. Es begann ein weiterer, langer Bürgerkrieg, in dem alle Volksgruppen sich gegenseitig verdrängten. Jugoslawien unterstützte die serbische Bevölkerung in Bosnien massiv mit finanziellen und militärischen Mitteln.

Die ehemalige jugoslawische Republik Makedonien war faktisch unabhängig, musste aber noch ein weiteres Jahr auf die offizielle Anerkennung warten, da das Problem der Namensgebung der neuen Republik noch nicht gelöst war.

Serbien und Montenegro, die beiden einzigen im ehemaligen Jugoslawien verbliebenen Republiken, kündigten am 27. April 1992 die Gründung der Föderativen Republik Jugoslawien an, die als Nachfolgestaat der ehemaligen Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien deklariert wurde. Nach der Verfassung war Jugoslawien eine pluralistische, parlamentarischen Demokratie mit freier Marktwirtschaft, Freiheit des öffentlichen Wirkens, sozialer Gerechtigkeit, Menschenrechten und Gleichheit aller Bürger.

Im Mai 1992 hatten nationalistische Führer der überwiegend albanischen Bevölkerung des Kosovo illegale Parlamentswahlen im Kosovo organisiert. Bei diesen Wahlen setzte sich das Demokratische Bündnis Kosovos durch. Das neu gewählte Parlament verkündete die Gründung der unabhängigen Republik Kosovo mit Ibrahim Rugova als Präsidenten. Serbien war in der Lage, die Kontrolle über die Provinz zu behalten, ohne dass erneut ein Bürgerkrieg ausbrach.

Wegen Serbiens anhaltender Unterstützung für die bosnischen Serben in dem Bürgerkrieg in Bosnien und Herzegowina wurde am 30. Mai 1992 ein Wirtschaftsembargo über die Republik verhängt.

Im September 1992 beschloss die Generalversammlung der Vereinten Nationen, dass die selbsternannte Föderation nicht den Sitz der ehemaligen Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien übernehmen könne und schloss sie aus der Generalversammlung aus. Es gab bis 2000 keinen weiteren offiziellen Versuch der Föderativen Republik Jugoslawien, die formelle Anerkennung der UN zu erwerben.

Im September 1994 veranlasste die Bundesregierung Jugolawiens eine Blockade der bosnischen Serben, und in den folgenden Monaten wurden einige der internationalen Sanktionen aufgehoben.

Am 21. November 1995 wurde nach dreiwöchigen Verhandlungen in Dayton (Ohio) von den Präsidenten Bosniens, Kroatiens und Serbiens ein Friedensvertrag paraphiert, der den Krieg in Bosnien und Herzegowina beendete (am 14. Dezember 1995 in Paris unterzeichnet). Die von den Vereinten Nationen verhängten Sanktionen wurden am 23. November 1995 für beendet erklärt. Nachdem Frankreich als erstes Land Westeuropas die Föderative Republik Jugoslawien am 22. Februar 1996 völkerrechtlich anerkannt hatte, vollzogen die anderen westeuropäischen Länder diesen Schritt unmittelbar nach der am 8. April 1996 erfolgten gegenseitigen Anerkennung der Föderativen Republik Jugoslawien und der Republik Makedonien.

Die innenpolitische Lage in Serbien beruhigte sich hingegen nicht. Im Kosovo wurden die Albaner vertrieben, in Armut und Arbeitslosigkeit getrieben. Auch im Kernland erhöhte sich erneut zu Beginn des Jahres 1996 die Spannung. Die erzwungene Schließung eines oppositionellen privaten Fernsehsenders sowie die Nichtanerkennung der Ergebnisse der Kommunalwahlen lösten zahlreiche Demonstrationen aus, bei denen die Teilnehmer u. a. auch den Rücktritt der Regierung Miloseviç forderten. Nach drei Monate andauernden Protesten wurde der Wahlerfolg in der Opposition ein einigen größeren Städten von der serbischen Regierung anerkannt. Milosevic nimmt Vuk Draskovic, einen der beiden Führer der Opposition, in die Regierung auf. Milosevic selber wird 1997 zum Präsidenten der Bundesrepublik – ein ursprünglich repräsentativ ausgestaltetes Amt.

In 1998 nehmen die Gewalttätigkeiten im Kosovo zu. Die sogenannte „Befreiungsarmee des Kosovo“ (UCK) unterstreicht mit Anschlägen auf serbische Sicherheitskräfte und kosovo-albanische „Kollaborateure“ ihren Willen, die Unabhängigkeit der Provinz mit Gewalt durchzusetzen. Bei der erneuten Wahl eines „Schattenparlaments“ und eines „Schattenpräsidenten“ siegen die LDK (22. März 1998). Die UCK kontrolliert Mitte 1998 nahezu 40% der Provinz. Mit dem Einsetzen der serbischen Gegenmaßnahmen in Form massiver Operationen von Spezialpolizei gelingt es Belgrad, zum einen die Grenzsicherung zu optimieren und somit die logistische Unterstützung aus Albanien zu erschweren sowie die unorthodox organisierte UCK aus allen bereits „befreiten“ Gebieten zu vertreiben.

Gleichzeitig rückt die Flüchtlingsproblematik in den Mittelpunkt des Interesses der Internationalen Gemeinschaft. Die Zahl von knapp 300.000 Flüchtlingen und Zehntausenden unter freiem Himmel lebenden Menschen zwingt die Internationale Gemeinschaft zur Verabschiedung der UN-Resolution 1199, die eine sofortige Einstellung der Feindseligkeiten, Abzug der serbischen Sonderpolizei sowie die Wiederaufnahme konstruktiver Verhandlungsgespräche verlangt.

Es folgen eine lange Zeit zäher Verhandlungen: Nach der Androhung von NATO-Luftschlägen lenkt Milosevic ein und vereinbart mit dem US-Sondergesandten Holbrooke u.a. die Entsendung einer unbewaffneten OSZE-Verifikationsmission und der unbewaffneten Luftaufklärung der NATO zur Überprüfung der Umsetzung der VN-Resolution 1199/98. Die Diskriminierung der Albaner endet gleichwohl nicht.

1999 Im Januar 1999 werden die ersten Massengräber entdeckt. Ende Januar wird der NATO-Generalsekretär zu Luftschlägen gegen Jugoslawien authorisiert. Es kommt zu mehreren Verhandlungen zwischen Milosevic unter anderem mit dem Außenminister Deutschlands, dem UN-Sondregesandten Richard Holbrooke. Eine friedliche Lösung im Sinne der westlichen Verhandlungsführer lehnte Milosevic kategorisch ab. Er war nicht bereit das Friedensabkommen von Rambouillet im März 1999 zu unterzeichnen, da dieses für ihn unannembare Forderungen stellte. Als er im Kosovo massiv militärisch interveniert und systemathisch die Kosovaren vertreibt, Völkermord und ethnische Säuberungen begeht, entschließt sich die NATO am 24. März 1999 zu Luftangriffen, „um Milosevic an den Verhandlungstisch zurückzubringen“.

Milosevic zieht seine paramilitärischen Einheiten und Sonderpolizei indes nicht aus dem Kosovo zurück, garantiert nicht die Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Heimat, stimmt keiner friedlichen Lösung im Kosovo-Konflikt zu und ist auch nicht bereit, eine (bewaffnete) NATO-‚Friedenstruppe‘ ins Land zu lassen. Verhandlungen des ukrainischen Außen- und Verteidigungsministers, des russischen Ministerpräsidenten, des russischen Sonderbeauftragten Tschernomyrdinin Belgrad während des Krieges verlaufen ergebnislos. Parallel dazu kommt es zu einer Flüchtlingswelle aus dem Kosovo. Hundertausende Kosovaren verlassen zu Fuß das Land und überfüllen innerhalb weniger Tage albanische und mazedonische Flüchtlingslager.

Der finnische Präsident Ahtisaari beginnt Mitte Mai im Auftrag der EU mit Verhandlungen. Schließlich stimmt das serbische Parlament DEM Friedensplan der G-8-Staaten am 3. Juni 1999 zu. Die serbischen Truppen und die Sonderpolizei ziehen sich aus dem Kosovo zurück. Die Luftangriffe werden ausgesetzt, Natotruppen rücken in den Kosovo ein.

Es wird eine UN-Übergangsverwaltung für Kosovo (UNMIK) eingerichtet, die Kosovo-Friedenstruppe (KFOR) mit Soldaten aus verschiedenen Ländern ist für die Sicherheit zuständig. Die Situation und Zukunft des Kosovo bleibt bis auf weiteres ungeklärt.

2000 Anfang Oktober 2000 wird das Milosevic-Regime weitgehend friedlich beendet. Vorausgegangen waren landesweite Proteste, Demonstrationen und Streiks, die nach den jugoslawischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen Ende September begonnen hatten. Am Abend des 5. Oktober erklärt Oppositionsführer Vojislav Kostinica den international geächteten Präsidenten Slobodan Milosevic für abgesetzt. Kurz darauf wird Kostunica als neuer Präsident Jugoslawiens vereidigt. Der montenegrinische Präsident Milo Djukanovic anerkennt Kostunica nicht als neuen Präsidenten, da der Großteil der Bevölkerung Montenegros (wie auch im Kosovo) die Wahl boykottiert hat. Djukanovic drängt auf eine starke Eigenständigkeit seiner Teilrepublik.

Zum neuen serbischen Regierungschef wird der ehemalige Oppositionsführer Zoran Djindjic ernannt.

Die EU-Außenminister beschließen, nach dem Machtwechsel das im Zusammenhang mit dem Kosovo-Krieg 1999 gegen Serbien verhängte internationale Ölembargo sowie das bis 2001 bislang nur ausgesetzte Flugverbot sofort und bedingungslos aufzuheben. Am 4. November bestätigt das Parlament in Belgrad die neue jugoslawische Regierung von Ministerpräsident Zoran Zizic. Jugoslawien findet den Weg in die internationale Staatengemeinschaft zurück. Zunächst wird Jugoslawien Vollmitglied im Stabilitätspakt für Südosteuropa, am 1. November Vollmitglied der Vereinten Nationen und am 10. November vollwertiges Mitglied in die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).

Ein Unruheherd bleibt das Kosovo. Immer wieder kommt es im Grenzgebiet zu Südserbien zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen albanischen Rebellen und serbischen Polizisten. Bei den ersten freien Wahlen im Kosovo am 28. Oktober erringt die Partei des moderaten Albaner-Führers Ibrahim Rugova (LDK) einen deutlichen Sieg. Sie kommt auf 58 Prozent. Die Nachfolgepartei der Albanermiliz UCK, die PDK von Hashim Thaci, bekommt 27,3 Prozent der Stimmen.

2001 Serbien und MontenegroDie mit der Ankündigung der Auszahlung von finanziellen Hilfen in Milliardenhöhe forcierte Auslieferung Milosevic an das Kriegsverbrechertribunal der Vereinten Nationen am 28. Juni 2001 führt einerseits zu einer Regierungskrise und Protesten in Jugoslawien (Zoran Zizic, Premierminster der Bundesrepublik Jugoslawien tritt zurück). Umgekehrt war dies ein weiterer Schritt Jugoslawiens zurück in die Staatengemeinschaft. Zoran Djindjic – Premier in Serbien – bekundete Anfang Juli 2001 die Absicht, ein Konzept für die Aufnahme in die EU zu präsentieren.

Die Auslieferung Milosevic war eine Bedingung für den Start von finanzieller Unterstützung des völlig ausgebluteten Jugoslawiens. Die Geberländer beschließen kurz nach der Auslieferung eine finanzielle Unterstützung in Höhe von mehreren Milliarden EUR für Jugoslawien.

2003 Mit der neuen Verfassung (2003) wurde die 1992 gegründete Bundesrepublik Jugoslawien in einen losen Staatenbund umgewandelt. Sie änderte ihren Namen in Serbien und Montenegro.
2006 2006 erklärte sich Montenegro unabhängig und spaltete sich als eigener Staat ab. Die Hauptstadt ist Podgorica.
2008 Am 17. Februar erklärte sich auch die Republik Kosovo für unabhängig. Während die Unabhängigkeit Montenegros von Serbien anerkannt wurde, gab es über die der ehemaligen Provinz Kosovo Streit. Der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag hat jedenfalls am 22. Juli 2010 entschieden, dass die Abspaltung der Provinz Kosovo nicht gegen internationales Recht verstoße.