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Reformation der Handwerksinnungen

Auszug aus Die Geschichte des Kurfürsten August von Sachsen in volkswirtschaftlicher Beziehung (1868) von Johannes Falke, der seit 1864 Archivar am Hauptstaatsarchiv in Dresden war.


Während der Regierung dieses Kurfürsten [August von Sachsen] hatte sich eine allgemeine Preissteigerung für die Producte der Land- und Forstwirthschaft sowohl wie des Bergbaus festgestellt, welche zur Folge hatte, dass auch die Handwerker ihre Erzeugnisse im Preise zu heben suchten. Als nach Ueberwindung der grossen Theurung zu Ende des sechsten und in den ersten Jahren des siebenten Jahrzehnts ein Abschlag der Getreidepreise eintrat, so dass dasselbe nach dem allgemeinen Zeugniss im Jahre 1578, »einige Jahre seither in gelindem und ziemlichem Preis« gestanden, erschienen die Preise in allen übrigen Zweigen der Volkswirthschaft, da sie nicht von der eingenommenen Höhe weichen wollten, in einem auffallenden Misverhältniss zu jenen. Mit dem Volk hatte auch die Regierung die Ueberzeugung, dass nach den Getreidepreisen sich auch alle übrigen richten und mit ihnen eben so schnell steigen wie fallen müssten, und schrieb deshalb das Stehenbleiben der gesteigerten Preise in den Handwerken bei fallendem Getreidepreis allein dem Eigennutz und der Habsucht der Producenten zu. Um diese Verhältnisse gründlich zu erforschen und die allgemeinen Preisverhältnisse mit denen des Getreides wieder in Uebereinstimmung zu bringen, beauftragte im Sommer 1578 der Kurfürst seine Räthe, von den Innungen zu Dresden schriftlichen Bericht über die Preisverhältnisse und deren Ursachen in jedem Handwerk besonders zu erfordern und dann solche Berichte zu einem Gesammtbericht zusammenzustellen.

Lucas Cranach: Kurfürst August v. Sachsen
August von Sachsen (Lucas Cranach d. J., um 1550, Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden)

Alle stimmten darin überein, dass das Getreide seither in billigem und erträglichem Preise stehe, dass aber alle übrigen Producte, insbesondre alle Arbeitsstoffe der Handwerke um das Doppelte, manche um das Dreifache seit 20–30 Jahren gestiegen seien. Dagegen wollte fast keine Innung die Preissteigerung ihrer Arbeitsergebnisse zugestehen, manche vielmehr einen Preisabschlag derselben gegen früher behaupten. Das Tuchmacherwerk berichtete, früher habe man den Stein Landwolle für 36 gr., 3 fl. oder 2 Thlr. gekauft, jetzt zahle man 1 ? 4 gr. bis 3 Thlr., und dabei wolle jeder Verkäufer sogleich bar bezahlt sein, den Stein Schmeer früher für 1 Thlr. oder 30 gr., jetzt 56–60 gr., den Kübel Weid früher für 10–12 fl., jetzt 25–28 fl., den Centner Gallnüsse früher für 12–15 fl., jetzt 26–32 f., den Centner Röthe früher für 4 fl., jetzt 81/2 fl.; auch Alaun und Weinstein, Schmalz, Honig, Weidasche, so wie alle zu Markt kommenden Waaren seien jetzt fast noch einmal so theuer wie früher, so dass von den 22 Handwerksmeistern 11 die Arbeit ganz hätten einstellen müssen.

Die Fleischhauer klagten, dass sie in Polen, Pommern, Schlesien, Böhmen und Lausitz, woher sie ihr Schlachtvieh holten, seit 30 Jahren mit unerhörten Zöllen beschwert seien; von einem Ochsen müssten sie in Oppeln 5 gr. und darnach in allen Städten und Dörfern bis eine Meile vor Dresden 4, 3 und 1 pf. zahlen, und in ähnlicher Weise von Schöpsen und Schafen. Vor 20 Jahren kostete ein Paar der besten Ochsen 16–18 fl., jetzt 32–40 fl., Kälber jetzt die geringsten 1 fl., ein dippoldiswaldisches Kalb aber 2-2-1/2 Thlr.; dennoch müssten sie jedes Kalbfleisch das Pfd. um 5 pf. geben und hätten auf ihre oft wiederholte Bitte, das Pfd. des bessern um 1 pf. theurer verkaufen zu dürfen, noch nie eine Antwort bekommen. Früher hätten ein Paar Schöpse zu Schwiebus und Grossglogau 1 fl. gekostet, jetzt kosteten sie über 2 Thlr. ohne die Zölle, ein Paar Schafe früher 12–18 gr., jetzt 26–30 gr., Lämmer früher 10–12 gr., jetzt 18–24 gr. Auch klagten sie, dass die Fremden und Landschlächter im Herbst, wenn das Vieh billiger sei, den Markt zu Dresden mit Fleisch überführten, um Johannis bei Theuerung der Viehpreise aber ihnen allein die Versorgung der Stadt überliessen. Dabei fehle es in Dresden an einer Viehweise, so dass, wenn sie nur 100 Ochsen in Vorrath komme liessen, jeder derselben in wenigen Wochen um 3–4 fl. schlechter geworden sei, während die Schlächter zu Leipzig für mehr als 1000 Ochsen vom Rath Weise hätten. In allen umliegenden Städten gäbe man das Rindfleisch das Pfd. für 9 pf., während sie nur 8 pf. nehmen dürften, und desshalb bei allen Ochsenhändlern in Spott und Verachtung gerathen seien.

Ochsenzubereitung bei der Krönung von Maximillian II. (1562)
Ochsenbraten bei der Krönung von Maximillian II.

Die Schuster meinten, früher habe Ochsenleder 1-1/2 Thlr. gekostet, jetzt koste es 3 Thlr., Kuhleder früher 30 gr., jetzt 60 gr., ein Kalbfell früher 4–5 gr., jetzt 18 gr., ein Stein Hanf früher 20 gr., jetzt zwei alte ?. (40 gr.); in demselben Masse sei alles Uebrige, was sie zum Handwerk brauchten, im Preise gestiegen, weil die Gerber von Bautzen, Görlitz, Zittau alle Felle und Leder rings um Dresden aufkauften und in die Sechsstädte und nach Schlesien führten. Ebenso klagten die Lohgerber über den Vorkauf und Wucher im Handel mit Fellen und Leder, die Bäcker über die Platz- und Kuchenbäcker, welche letzteren an allen Thoren und Thüren und auf allen Plätzen zu Dresden sitzen dürften, über die Böhmen und die Bäcker von Siebenlehn, die ungestört Brod hereinbrächten und Korn aufkauften; während kein andere Handwerk Störer leide, habe das Bäckerhandwerk zu Dresden am meisten davon zu leiden. Die Büttner und Tischler klagten über die Theurung des Holzes; früher habe eine Eiche in der dresdnerischen Heide 15 gr. gekostet, jetzt koste sie 2 Thlr., die Fuhre von daher früher 5 gr., jetzt 1 Thlr., ein Schock Fassholz an der Elbe früher 6 gr., jetzt 15–16 gr., eine Tanne früher 8, jetzt 18 gr., ein Stein Leim früher 15–18 gr., jetzt 2 fl. 6 gr.

Leipziger Jungfrau Jost Amman
Leipziger Jungfrau von Jost Amman aus: Im Frauenzimmer wirt vermeldt von allerley schönen Kleidungen und Trachten etc. (1586)

Die Schneider meinten, dass, während die Arbeit an einem Kleide wegen vermehrter Stickerei schwerer und langwieriger geworden sei, sie doch schlechter bezahlt werden als früher, denn sie erhielten auch jetzt für ein solche Kleid nur 1 Thlr. bis 30 gr.; auch sei der Hauszins von 6–7 fl. auf 15–18 fl. gestiegen. — Die Hutmacher klagten über die Steigerung der Wolle von 1-1/2 fl. auf 3 Thlr., der Karden, des Leims, des Hauszinses von 5–6 fl. auf 10–12 fl.; vor 16 Jahren habe ein Geselle in der Woche 6 braunschweigsche Hüte gemacht, deren jeder für 12–14 gr. verkauft wurde, jetzt mache er zwei aus der besten Wolle und gelte jeder nur 1 fl. oder 1 Thlr., doch dem Bauersmann müssten sie die Hut immer noch um den alten Preis geben. — Die Weissgerber, Sattler, Beutler, Buchbinder klagten über die Steigerung der Felle und des Leders; das Hundert weisser Leder sei von 10 fl. auf 21 fl. gestiegen, Schaffelle von 20 auf 28 fl., Kalbfelle von 20 auf 35 Thlr., Bocksleder von 35 auf 50–55 Thlr., Schweinsleder das Buschel von 30 gr. auf 3 Thlr. — Auch werden, meinten die Buchbinder, ein Buch zu binden nicht mehr bezahlt als früher, und sei jetzt nichts unwerther und verächtlicher als die Bücher und der Handel mit denselben durch Hausirer verdorben. — Die Huf-, Messer- und Nagelschmiede, die Schwertfeger, Sporer, Büchsen- und Uhrmacher klagten über die Steigerung eines Steins Eisen von 5 und 5-1/2 gr. auf 8 gr. 8 pf., eines Pfundes Stahl von 8 pf. auf 18–20 pf., eines Kübels Holzkohlen von 8 pf. auf 3 gr., der Tonne Steinkohlen von 1-1/2 gr. auf 3-1/2 gr., eines Schragens (3 Klafter) Holz von 2 Thlr. auf 6 fl. Den Kupferschmieden war der Ctn. Kupfer von 10 auf 15 fl. gesteigert, den Fischern ein Paar Wasserstiefeln von 1 auf 3 fl., ein Kahn von 1-1/2 Thlr auf 4 Thlr., den Maurern dagegen der Wochenlohn von 30 gr. auf 18 gr. gesunken.

Saxonia Superioris Lusatiae
Schlesien, die Lausitzen und Sachsen im 17. Jahrhundert, Karte von Gerhard Mercator und Henricus Hondius

Der Kurfürst kam bald zu der Ueberzeugung, dass auf Grundlage dieser Berichte keine neue Ordnung zu machen sei, und befahl desshalb am 12. Septbr. 1578, durch die Innungsmeister aus jedem Handwerk zwei Meister wählen zu lassen, die bei Eid und Pflicht eine Satzung machen sollten, wie jede Arbeit zu geben und zu verlohnen sei. Am 18. Septbr. mussten sämmtliche Handwerksmeister schwören, dass die aller Steigerung der Waaren in ihrem Handwerk vorkommen, alle Arbeit zu billigem Preis geben und, so oft sie erfordert würden. mit Rath und That zur Aufrichtung guter Ordnung helfen und die übertheuerten Waaren nach billigem Werth schätzen wollten. Zugleich mussten die Innungen für alle ihre Arbeitserzeugnisse Taxen aufsetzen, welche aber sämmtlich vom Kurfürsten als zu hoch gegriffen verworfen wurden, worauf er dann am 9. Octob. 1578 an den Rath von Dresden ein Rescript folgenden Inhalts erliess: Obwohl die Materia, welche die Handwerker gebrauchen, etwas mehr als vor Alters gestiegen sei, sei es doch nicht so hoch, dass sie eine solche übermässige Steigerung zu machen Ursache hätten, auch sei das Getreide eine gute Zeit her in ziemlichem Kauf gewesen. Sie sollten desshalb forthin alle Artikel über Ordnung und gute Zucht einhalten, die unvermögenden Lehrjungen ohne Lehrgeld gelehrt werden, doch dafür etwa länger dienen, und keine Morgensprachen ohne Beisein eines vom Rathe mehr gehalten werden. Weil aber eine gewisse Taxe aller Arbeit eigentlich nicht angestellt werden könne und die übergebenen alle zu hoch seien, so sollte dieselbe in der Geschwornen Pflicht gestellt werden. Darauf folgten Antworten und Verordnungen auf die Beschwerden der einzelnen Zünfte, z. B. Schreiben an die Räthe von Leipzig und Naumburg wegen Abstellung des Betrugs im Pelzhandel, an eine Anzahl Nachbarstädte wegen Gleichstellung ihrer Fleischtaxe mit der zu Dresden. Die Handwerker, welche bestellte Arbeiten in der versprochenen Zeit nicht fertigten, sollten gestraft, die Strafe der Bäcker, nach welcher sie für jedes am Bridgewicht fehlende Loth 5 gr. zu zahlen hatten, geschärft, und auch die Kornhändler, welche den armen Bäckern Korn und Weizen auf Borg theuer aufhängen würden, gestraft werden. Die Schuster, Gerber, Tuchmacher, Kürschner, Leinweber und andre wurden getadelt, weil die die Waaren theurer gäben, als von Alters, die Maurer und Ziegeldecker, weil sie sich mit dem geordneten Lohn nicht begnügten und für einen Lehrjungen so viel Lohn ansetzten wie für einen Gesellschen. Alle vierzehn Tage sollte eine Schau der Schuhe und Stiefeln, der gegerbten Leder, Tuche, Felle, Leinwand u. a. Waaren gehalten und wenn die Mängel nicht abgeschafft würden, durch unverdächtige Personen eine Probe des Handwerks angestellt und darnach der Steigerung gesteuert werden. Eine solche Handwerksprobe wurde auch wirklich zu Anfang des folgenden Jahres gegen die Schuhmacher ausgeführt. Die beiden zu Hof geschworenen Schuhmachermeister mussten nehmlich eine Rindshaut, zwei Kuhleder, Kalbs- und Schaffelle mit allem Zubehör kaufen und dieselben in Gegenwart von zwei Rathsherren und drei anderen Meistern des Handwerks zu Manns-, Frauen-, Knaben- und Mädchenschuhen, zusammen 26 Paar, zerschneiden und diese Schuhe durch fünf Schuhknechte gegen einen Tagelohn von 8 pf. für jeden und entsprechender Kost fertigen lassen. So kamen die Schuhe zusammen auf 10 fl. 20 gr., nach Abzug des übrig gebliebenen Materials auf 10 fl. 3 pf., im Durchschnitt aber jedes Paar Schuhe auf 8 gr. 4 pf. 1-3/13 h. Als nun aber auf Befehl des Raths die geschworenen und ältesten Meister des Handwerks, ohne die Rechnung de beiden Meister zu kennen, die Schuhe bei Eid und Pflicht schätzen sollten, taxierten die die 26 Paar Schuhe zusammen auf 7 fl. 14 gr. 3 pf., als ein Paar Mannsschuhe zu 7 gr. bis 7 gr. 6 pf., ein Paar Frauenschuhe zu 5 gr. bis 5 gr. 6 pf., ein Paar Knabenschuhe 5 gr. bis 5 gr. 6 pf. und das Paar Mägdeschuhe zu 3 gr. 3 pr., demnach hatte man, so wurde geschlossen, 2 fl. 14 gr. 9 pf. mehr auf die Schuhe verwandt, als sie werth waren. Und noch dazu waren diese Schuhe nach der von der Innung aufgestellten, vom Kurfürsten verworfenen Taxe geschätzt, ein Beweis also, dass, da jene Arbeitern nach allgemeinem Brauche verlohnt und verköstigt wurden und eben so viel arbeiten mussten wie andre, eine Preissteigerung innerhalb dieses Handwerks durchaus gerechtfertigt war.


Aus Johannes Falke: Die Geschichte des Kurfürsten August von Sachsen in volkswirthschaftlicher Beziehung, Lepzig: 1868.

Die Preisfrage ist nun: Wer hat in diesem verwirrenden Zahlenspiel verloren?

Gustav von Schmoller hat dies 1896 bündig beantwortet: „Die komplizierte Wochenmarkts- und Vorkaufsgesetzgebung ist in Summa nichts als ein raffiniertes System, Angebot und Nachfrage zwischen kaufendem Städter und verkaufendem Landmann so zu gestalten, daß der erstere in möglichst günstiger, der letztere in möglichst ungünstiger Position beim Konkurrenzlaufe sich befinde.“

Elf Worte, Schnipsel und das Leistungsschutzrecht der Presse

Der EuGH zeigte sich bekanntlich bei der Auslegung der Richtlinien der Europäischen Union zum Schutz des geistigen Eigentum gnädig: »Wörter als solche stellen keine vom Schutz erfassten Bestandteile dar.« Das exklusive Recht steht in der Theorie und auf dem Papier ja den Urhebern oder — bei einer Schutzdauer von 70 Jahren nach dem Tod des Urhebers — deren Enkel zu (in der Wirklichkeit den Rechteverwertern). Die europäischen Bürger sind dem EuGH für das Urteil wohl auch (un-)ausgesprochen dankbar. Schließlich hat der EuGH geurteilt, dass wir all die neumodischen Wortkreationen wie Transistor, Relativitätstheorie, E-Mail oder telefonieren bereits jetzt benutzen können, ohne den jeweiligen Urheber um Erlaubnis zu fragen. Die Kommunikation wäre doch erheblich erschwert, wenn man nur den Wortschatz aus der Zeit vor 1900 frei benutzen dürfte. Auch die Abfassung des Urteils (Text hier) wäre vermutlich schwerer gefallen, weil der EuGH dann die Worte Datenbank, Scanner, TIFF-Format oder Optical Character Recognition nicht benutzen dürfte, ohne die kreativen Urheber dieser Wortschöpfungen (oder Erwerber des geistigen Eigentums) um Erlaubnis zu fragen. Einzelne Wörter sollen offenbar nicht unter das Urheberrecht fallen, obwohl manche Wortschöpfungen durchaus geeignet sein können, den schöpferischen Geist in origineller Weise zum Ausdruck zu bringen und nach dem Verständnis des EuGH eine geistige Schöpfung darstellen können (die dann zum Exklusivrecht führt).

Aber so ganz sicher war sich der EuGH offenbar nicht, denn sonst hätte er es ja nicht in das Urteil geschrieben und dieser Feststellung die ganze Randnummer 46 gewidmet. Wir haben es insoweit mit kreativer Tätigkeit zu tun und das Hauptziel der Regelungen zum Urheberrecht besteht bekanntlich darin, ein hohes Schutzniveau unter anderem zugunsten der Urheber sicherzustellen und diesen eine angemessene Vergütung für die Nutzung einschließlich der Vervielfältigung ihrer Werke zu ermöglichen, damit sie weiterhin schöpferisch und kreativ tätig sein können. Und wie jeder weiß, stellt das Urheberrecht heutzutage ja sicher, dass die Urheber angemessen entlohnt werden (zumindest für ihre Tätigkeit als Musiklehrer, Taxifahrer oder Professorin).

Da aber das Schutzniveau hoch zu sein hat, so der EuGH, könne nicht ausgeschlossen werden, dass einzelne Sätze oder sogar Satzteile urheberrechtlich geschützt sind. Solche Splitter eines Textes könnten dazu geeignet sein, dem Leser die Originalität einer Publikation wie etwa eines Zeitungsartikels zu vermitteln, indem sie ihm einen Bestandteil mitteilen, der als solcher Ausdruck der eigenen geistigen Schöpfung des Urhebers dieses Artikels ist. Bei dieser verqueren ,,Schutz hier, Schutz da, Schutz dort“-Logik ist zu beachten: Nur das Schutzniveau muss hoch sein, nicht das Niveau des Geschützten.

Man muss sich nun genau überlegen, ob man noch »Wir sind Papst« verwendet, oder doch lieber »Unsereiner ist Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche« schreibt. Aber dafür ist es jetzt, nach dem Lesen, schon zu spät, denn diese originelle Schöpfung gehört nun dem Verfasser (und seinen Erben bis ins dritte Glied).

Nach dem EuGH kann jedenfalls ein Ausdruck eines Auszugs aus einem geschützten Werk, der aus elf aufeinander folgenden Wörtern des Werkes besteht, bereits urheberrechtlich geschützt sein. Die Rechtsinhaber haben damit nach dem (im Urteil nicht zitierten) Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 das ausschließliche Recht, die Verbreitung in beliebiger Form durch Verkauf oder auf sonstige Weise zu erlauben oder zu verbieten. Man müsste also vorher eine Genehmigung einholen, es sei denn, die Nutzung des Schnipsel ist durch das Zitatrecht gedeckt. Kann geschützt sein bedeutet in diesem Fall, dass man sich im Zweifel darüber vor Gericht über mehrere Instanzen trefflich streiten kann.

Eine besondere Gefahr sah der EuGH darin, dass die Nutzer nichts besseres zu tun haben, als sich aus einzelnen Schnipseln von jeweils elf Worten eine längere Textpassage zusamenzureimen, die dann Originalität des betreffenden Werkes widerspiegeln kann. Diese Schnipsel-Rätselei könne dazu führen, dass eine geistige Schöpfung des Urhebers zum Ausdruck gebracht werde (es geht, wie gesagt, um Zeitungsartikel), was ja, wie gesehen, ohne Zustimmung des Rechtsinhabers nicht erlaubt ist. Das Recht gebietet es also, dass keinem Leser ohne Erlaubnis des Rechtsinhabers die Originalität einer Publikation wie etwa eines Zeitungsartikels durch Schnipsel aus dem Text vermittelt wird.

Verleger wollen dort ernten, wo andere gesät haben

Nun mag man sich fragen, wieso die deutsche Presse sich so für ein eigenes Leistungsschutzrecht stark macht, wenn bereits das Kopieren solcher kurzer Auszüge aus Texten verboten sein kann. Das Problem liegt darin, dass der EuGH mit seiner originellen Schnipsel-Logik immer noch eine gewisses Maß an Originalität (des Schnipsels) fordert. Mag diese Hürde inzwischen auch auf das Niveau Unterkante Bordstein (wo der Unrat in die Kanalisation gespült wird) gesunken sein, Sätze wie Oderhochwasser steigt weiter, Siemensaktie sinkt auf Jahrestief oder BND-Agenten-Affäre weitet sich aus überspringen selbst diese niedrige Messlatte nicht. Deutlich wird der Unterschied bei den Leistungsschutzrechten der Tonträgerhersteller. Von dem Leistungsschutzrecht werden die kleinsten Partikel erfasst, was bei den Schnipseln aus den genannten Gründen nicht feststeht und einzelne Worte, was man nochmals betonen muss, nach dem EuGH noch kein Verbotsrecht begründen.

Zauberformel Leistungsschutzrecht?

Dass diese Schnipsel nicht geschützt wurden, war lange Zeit nicht tragisch, denn damit konnte man kein Geld verdienen. Zwischen den Suchmaschinen und den von der Suchmaschine gefundenen Websites liegt eher ein symbiotisches Verhältnis vor. Zunächst waren die Produzenten (Verleger) froh, wenn ihnen jemand die Kundschaft (Leser) besorgte — die Angestellten in der Werbebranche und den Marketingabteilungen leben davon. Als im Internet die Suchmaschinen diese Tätigkeit (Kunden und Anbieter zusammenzubringen) unentgeltlich übernommen haben, wurden Millionen in SEO investiert — in die Optimierung der eigenen Website, damit sie in den Suchmaschinen möglichst gut gefunden wird. Zu dieser Zeit wurden seitens der Presse — wenig erstaunlich — keine Rufe laut, die Presse würde unentgeltlich von den Leistungen der Suchmaschinenbetreiber profitieren. Jetzt verdienen die Suchmaschinenbetreiber auf andere Art Geld und da wächst die Begehrlichkeit. Die Begründung, mit der man entsprechende Rechte durchsetzen kann, ist bekannt: Die Unternehmer müssten es derzeit hinnehmen, dass Dritte ihre Wertschöpfung unentgeltlich zur eigenen Gewinnzerzielung ausnutzen. Anders gesagt: Mit der nämlichen Argumentation, mit der der Bundesverband der Zeitungsverleger ein Leistungsschutzrecht fordert, könnten auch Suchmaschinenbetreiber ein Leistungsschutzrecht fordern, denn die Verleger profitieren auch von den Suchmaschinen. Die beiden Verlegerverbände behaupten, sie würden ein Verbotsrecht benötigen, aber sie wollen das Tun der Suchmaschinenbetreiber (etc.) gar nicht verbieten, sondern sich — ganz im Gegenteil — möglichst prominent unter den am häufigsten angezeigten Links befinden. Widersprüchlicher geht es kaum.

Worum es nun bei dem Leistungsschutzrecht geht, liegt auf der Hand. Solange kein Geld mit den Links verdient wurde, gab es auch kein Interesse an dem Recht. Die Forderung gründet also in dem Wunsch, dort zu ernten, wo man nicht gesät hat. Das macht jeder gern, weil der andere arbeitet, während man selbst kassiert. ,,Natürlicherweise“, wie etwa Fichte feststellte, ,,will jeder an dem anderen gewinnen, soviel als möglich, und den anderen an sich gewinnen lassen, sowenig als möglich; jeder will den anderen soviel als möglich für sich arbeiten lassen, und dagegen sowenig als möglich für ihn arbeiten.“

Viel mehr gibt es hierzu nicht zu sagen, außer vielleicht: Manche Tätigkeiten werden vom Markt nicht bezahlt. Wenn diese Leistung unter Marktbedingungen überhaupt nicht erbracht wird, muss man sich Gedanken machen, ob diese Leistung notwendig ist und ob sie auf andere Art zu finanzieren ist. Die Verleger engagieren sich jedoch scheinbar auf einem bereits weitgehend gesättigten Markt. Ihre besondere Leistung, mit der sie sich geltend machen wollen, wird jedenfalls von den Kunden offenbar als wertlos eingeschätzt (andernfalls würden die Kunden ja etwas dafür bezahlen). Modelle, bei denen die die Nutzer etwas für die Leistung der Verleger bezahlen, sind im Internet kein Unding. Ein Unding ist in einer freien Marktwirtschaft eher die Vorstellung der Verleger, dass ihre von den Kunden als wertlos eingeschätzte Leistung vom Staat durch die Hintertür versilbert wird.

Ein weiterer Aspekt ist die bestehende Aufsplitterung der Interessen der Leser, die sich in dem Medium Zeitung nicht spiegelt.  In der klassischen Zeitung findet man Politik, Sport, Kultur, Wirtschaft oder etwa Regionales. Die meisten Leser interessieren sich nur für einen Teil der in einem Medium vereinigten Themen. Das Internet erlaubt eine Spezialisierung, die es der alten Methode, viele Interessen unter einem Dach zu vereinigen, schwer macht. Durch das Internet sind die Möglichkeiten der Leser, ihre eigene Bewertung durch  Annahme oder Ablehnung des jeweiligen Angebots zum Ausdruck zu bringen, größer geworden. Die Leser haben an Macht hinzugewonnen. Erst dies erlaubt einen Wettbewerb, der nach unterschiedlichen Kriterien unterscheiden kann. Man kann auf Masse achten, man kann auf hochwertige Beiträge setzten,  man kann aber nicht einfach die Zeitung ins Netz stellen.

Für die meisten (ehemaligen) Universalanbieter bedeutet dies, dass sie in jedem Bereich ihres Angebots wettbewerbsfähige Leistungen anbieten müssen. Wenn sie das nicht tun, entscheiden sich die Leser durch Nichtbeachtung gegen das Angebot. Das bedeutet aber keinesfalls, dass damit diese Leistung aus Sicht der Konsumenten entfällt — sie wird nur von jemand anderen besser angeboten. Erst dies bietet die Möglichkeit, sich (auch) durch Qualität geltend zu machen. Dieser Wandel (den manche Verleger alter Schule anscheinend noch nicht nachvollzogen haben) führt dazu, dass breite, eine Vielzahl von Interessen abdeckende Angebote nur bestehen können, wenn sie in allen Bereichen auch die entsprechende Leistung erbringen. Große und thematisch weit greifende Angebote aus der Hand einzelner Pressemogulen haben es ohne entsprechende journalistische Leistung schwerer, während die Chancen der spezialisierten Angebote gestiegen sind. Presse(-industrie-)betriebe bekommen infolge des Wettbewerbs Schwierigkeiten, wollen aber diese ehemalige Position nicht aufgeben und hoffen nun auf das Leistungsschutzrecht.

Unsere Regierung wird dem Begehren der Verleger nach mehr Geld — natürlich für den guten Zweck (Demokratie, Qualitätsjournalismus) — wahrscheinlich nachgeben: Einen weiterer Rückschritt in eine Zukunft, in der sich wie in guten alten absolutistischen Zeiten die einflussreichen Königstreuen ihre Privilegien sichern. Die Demokratie schützt man wohl kaum, indem man einer Handvoll Konzernen, die 80 % der Zeitungslandschaft beherrschen, mehr Geld verschafft. Was Demokratie mit der Verteilung der Gewinne zwischen Google und Co. und den Pressekonzernen zu tun haben soll, das steht sowieso in den Sternen.

Das Schutzrecht verdrängt Qualitätsjournalismus

Und Qualitätsjournalismus beruht wohl im wesentlichen auf guten Journalisten, die die Verlage durch gute Bezahlung gewinnen können. Das hat aber alles nichts mit dem Leistungsschutzrecht zu tun, denn das unterscheidet nicht zwischen

  1. kaum geändert weitergegebenen Pressemitteilungen;
  2. den neusten Fußballergebnissen und
  3. Berichten welches Sternchen mit wem und wo und wie gekleidet gesehen wurde, obwohl sie doch vor drei Wochen mit dem (Sie wissen’s schon) geturtelt haben soll.

Der Qualitätsjournalismus dieser Qualität würde wahrscheinlich 99,9 % der Einnahmen der Presseverleger ausmachen, die sich aus dem Leistungsschutzrecht ergeben. Dass man keinen sinnvollen — gestritten wird um’s liebe Geld — wirtschaftlichen Anreize für Qualitätsjournalismus setzt, indem man Masse statt Qualität belohnt, liegt auf der Hand. Der schludrig zusammengeschnipselte Artikel bringt bei dem Leistungsschutzrecht finanziell das gleiche ein wie ein sorgfältiger Beitrag, den ein Autor möglicherweise im Laufe von Wochen ausgearbeitet hat. Im Ergebnis setzt man mit dem Leistungsschutzrecht also Anreize, den Qualitätsjournalismus zu verdrängen, weil bessere Arbeit in der Regel mehr kostet — auf der Einnahmenseite aber das Gleiche einbringt wie ein schnell geschriebener Beitrag.

Das eigentliche Problem

Das eigentliche Problem der Verleger liegt auf einer vollkommen anderen Ebene. Deutlich wird dies, wenn man  das Privatfernsehen mit dem Internet vergleicht. Die über Werbung finanzierten Fernsehsender können die Lieferung von Inhalt und Werbung kontrollieren. Beides liegt in einer Hand und reine Werbesender sind nicht sonderlich erfolgreich.  Im Internet funktioniert das System,  Werbung und Inhalt miteinander zu verknüpfen nur beschränkt. Die Aufspaltung der ehemals  in einem Medium geeinten Kosten- und Einnahmefaktoren wird im Privatfernsehen am deutlichsten. Werbung bringt Einnahmen, der Inhalt verursacht Kosten.

Auch die Zeitungen haben früher zahlreiche Anzeigen geschaltet und so die Einnahmen nicht nur über das Entgelt für die einzelne Zeitung, sondern sogar zum überwiegenden Teil über Werbung finanziert. Im Internet gelten andere Regeln: Nach und nach haben sich einzelne Websites die Rosinen der Zeitungen rausgepickt: Stellenangebote, Bekannschaftsanzeigen, Immobilien oder Mietwohnungen, die Internetwerbung überhaupt, werden im Internet in besonderen Portalen geschaltet, die den Presseverlegern diese Einnahmequellen sogar (zumindest zum Teil) auch im Druckbereich abgenommen haben. Allen voran scheint dies in Deutschland die Scout24-Gruppe zu sein.

Achtung

Da im Internet die Verknüpfung von Inhalt und Werbung in einem Medium eines Anbieters kaum noch funktioniert, ergeben sich die von den Verlegern monierten Probleme aus einer gänzlich anderen Sphäre, als derjenigen, auf die das Leistungsschutzrecht reagieren soll. Die Verleger konnten die Kontrolle über eine ehemals bedeutende Einnahmequelle, die sich aus der früher an Druckexemplare gebundenen Verbindung von Werbung und Inhalt ergab,  nicht erlangen und sind nunmehr in der unangenehmen Situation, in der sich der Großteil der Bevölkerung befindet, die — wenn überhaupt — nur noch mit geringen Gewinnen rechnen können.

Hieraus ergeben sich Umschichtungen in dem Gefüge der Gewinner und Verlierer des Marktsystems. Verleger sind plötzlich auf das Niveau zurückgeworfen worden, auf dem sich bislang vor allem die freiberuflichen Autoren befanden. Sie setzen nun auch einem mächtigen Gegner gegenüber. Die Symbiose von Verleger und Autor führte in der Regel zu folgender Aufteilung: Die Ehre, zur Kenntnis genommen zu werden, kam dem Urheber zu, während der Verleger die Gewinne hatte.

Diese Verschiebungen des Ertrags sind dem marktwirtschaftlichen System eigen, bei dem in der Verwertungskette regelmäßig derjenige sich den Löwenanteil sichert, der die letzte Position in der Verwertungs- oder Wertschöpfungskette innehat, die zugleich noch mit Marktmacht verbunden ist. Das sind nicht die Verleger, denn in der Kette der Vermarktung der Werbung haben sie keine besondere Position.


Ergänzung: [28. Okt. 2010]
Wie der Vorstandsvorsitzende der Axel Springer AG am 14. 9. 2010 in der Neuen Züricher Zeitung erklärte, erwägen die deutschen Verlage, ihre (bislang nicht existenten) Online-Rechte für gewerbliche Nutzung von einer Verwertungsgesellschaft wahrnehmen zu lassen, eine Art ,,Online-GEMA„, die Lizenzverträge zwischen der Verwertungsgesellschaft und Unternehmen, die Online-Inhalte von Zeitungen und Zeitschriften gewerblich nutzen, erzwingen können soll. wie Hans-Peter Siebenhaar im Handelsblatt darlegte.

Verwertungsgesellschaften haben mit ,,Rechten“ im eigentlichen Sinne oder Marktwirtschaft überhaupt nichts mehr zu tun. Sie dürfen eine Art private Sondersteuer für abstrakte Tatbestände erheben, bei denen das zu schaffende ,,Recht“ nur eine Legitimationsfunktion hat und den eigentlichen Tatbestand der Subvention der Rechtsinhaber verdeckt.

Auch die GEZ, die für die öffentlich-rechtlichen Sender die Gelder beitreibt, knüpft nicht an die Nutzung von bestimmten durch das Recht erfasste Inhalte an, sondern an den Besitz eines Empfangsgeräts. Ab 2013 soll dies durch eine ,,Wohnungsabgabe“ ersetzt werden, so dass der Tatbestand, dass man in Deutschland wohnt zum Anknüpfungspunkt wird. Immerhin — Taubblinde werden auf Antrag von der Wohnungsabgabe zugunsten der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten befreit.


Ergänzung: [31. Dez. 2010]

Was konkret  Gegenstand des Leistungsschutzrechts sein soll, ist selbst zum Ende 2010 nicht klar.

Mario Sixtus vermutet, dass die Verleger nicht etwa die Texte selbst honoriert haben wollen, sondern das Zusammentragen und online stellen der Texte. Nach dem Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger soll das Leistungsschutzrecht ,,seiner Natur nach Inhalte (Texte, Textausschnitte etc.) nur in ihrer Eigenschaft als Element des Presseerzeugnisses schützen“, was wohl auf ein  Sonderrecht der Zunft der Hersteller von Presseerzeugnissen hinauslaufen müsste.

Ob das bloße Übernehmen einer Textpassage ohne entsprechenden Link auf den vollständigen Text oder einen anderen Hinweis das entsprechende Unternehmen auch von dem Tatbestand erfasst sein soll, ist nicht erkennbar. Wenn man die von den Presseverlegern als Parallele herangezogenen Leistungsschutzrechte der Tonträgerhersteller betrachtet, können eigentlich nur irgendwelche Wortreihen oder gar einzelne Worte erfasst werden, dies allein, weil sie in einem Presseerzeugnis veröffentlicht wurden (und der eigentliche Text — etwa ein Text aus dem 19. Jahrhundert — bereits seit langem gemeinfrei ist).


Historischer Überblick — Serbien

Einführung Jugoslawien (Südslawien) ist über lange Jahrhunderte hinweg ein Grenzland. Bereits in der Spätantike verläuft hier an der Drina die wichtige Grenze zwischen dem west- und oströmischen Reich, zwischen dem römisch-katholischen und dem orthodoxen Christentum. Die Drina bildet in der Osmanenzeit auch die Scheidelinie zwischen dem Christentum und dem Islam.
Ursprung Seit etwa 1000 v. Chr. war die Region von den Illyrern besiedelt, die um etwa 700 v. Chr. zunächst unter griechischem, später unter römischem Einfluss standen 300 Jahre v. Chr. begannen die Römer ausgehend von der Küste die Gegend zu unterwerfen und gründeten die Provinzen Dalmatia (Dalmatien) und Moesia superior (Mösien).
300-700 In dieser Zeit fanden Wanderungen der slawischen Völker (u. a. Serben, Kroaten, Slowenen, Bulgarien und Makedonier) auf die Balkanhalbinsel statt. Im Rahmen der Teilung des römischen Reichs fiel das Gebiet 395 an Byzanz. Ab dem 7. Jh. ließen sich südslawische Serben nieder.
700-1200 Interne und externe Auseinandersetzungen führten dazu, dass sich die slawischen Stämme nicht einigen konnten. Nur in Kroatien (unter Tomislaw) bildete sich 925 ein unabhängiges Königreich, das seinen Machtbereich auch auf Slowenien ausdehnte, bis es 1091 mit Ungarn vereinigt wurde. Das jugoslawische Gebiet stand fast ununterbrochen entweder unter byzantinischer oder unter bulgarischer Herrschaft. Ragusa (Dubrovnik) fiel mit Aufstieg der einflussreichen Handelsstadt unter venezianische Herrschaft. Stephan Nemanja erreicht um 1180 das erste unabhängige serbische Königreich Serbien (Raszien); sein Sohn erhielt 1217 von Papst Honorius III. die Königskrone.
1220-1355 1282 fiel das Kernland Sloweniens, die Krain, an die Habsburger und blieb bis 1918 zu einem erheblichen Teil österreichisch.

Unter Stephan Dusan (Regierungszeit 1331-1355) eroberte das Reich einen Großteil des heutigen Serbien und Montenegro, Makedonien, Thessalien, Albanien und Epirus. Skopje – heute Hauptstadt Makedoniens – war in dieser Zeit der größten Ausdehnung des serbischen Reichs Hauptstadt. Dusan ließ sich 1346 zum Zaren der Serben, Albaner, Griechen und Bulgaren krönen. Nach dem Tod Dusans verfiel das große Reich rasch.

Europa im 12. Jahrhundert
Europa im 12. Jahrhundert
1355-1800 Die Osmanen drangen in dieser Zeit tief nach Zentraleuropa vor. 1389 wurden die Serben von den Osmanen im Kosovo auf dem Amselfeld (Kosovo-Polje) vernichtend geschlagen. Schließlich nahmen die Türken 1459 Smederevo südlich von Belgrad ein und Serbien fiel unter türkische Herrschaft. 1463 eroberten die Türken Bosnien; 1482 schließlich die Herzegowina. Die Türken besetzen Bosnien, die Habsburger behielten Nordkroatien und Slowenien, die Venezianer Dalmatien. Herzegowina, Montenegro und Ragusa behielten ihre Unabhängigkeit.

Der Widerstand gegen die Türken fand seinen Ausdruck in den serbischen Bergstämmen Montenegros, der serbisch-orthodoxen Kirche und den Haiduken (Räuberkriegstum).

Durch den Frieden von Karlowitz (1699) und Passarowitz (1718) wurde die Save-Donau-Linie zur grenze zwischen den Serben unter österreichisch-ungarischer und osmanischer Herrschaft.

ab 1800 Im 19. Jahrhundert vertieften sich die heftigen Gegensätze zwischen den christlich-orthodoxen Serben, der muslimischen Mehrheit in Bosnien und den christlich-orthodoxen und muslimischen Makedoniern. Dazu kamen noch die österreichisch-ungarischen Kroaten, die katholischen Slowenen und die nicht-südslawischen Völker (Albaner, Ungarn, Türken, Italiener). Die Großmächte Österreich und Russland drängten die Osmanen aus Südosteuropa.

Es begann der serbische Freiheitskampf gegen die Janitscharen von Belgrad unter der Führung des Viehhändlers George Petroviç, genannt Karadjordje (Karadordejvic). Die durch den Frieden von Bukarest 1812 gewonnene Autonomie nahm der osmanische Sultan 1815 wieder zurück.

Eine neue Erhebung unter Milo Obrenoviç führte 1815 innerhalb weniger Monate erneut zur Autonomie. Fast ganz Serbien wurde von der türkischen Herrschaft befreit. Obrenoviç wurde 1817 als Erbprinz anerkannt, und Serbien erhielt begrenzte Autonomie unter der Oberhoheit des Sultans. Durch den Vertrag von Adrianopel nach dem Russisch-Türkischen Krieg (1828-1829) erhielt Serbien größere Autonomie, und die Anzahl türkischer Garnisonen wurde verringert.

1817-1877 Obrenoviç war 1817 an der Ermordung Karadjordjes beteiligt. Dies führte zu einer erbitterten Rivalität zwischen den beiden Dynastien. Milos Obrenoviç, ein autoritärer Herrscher, wurde 1839 gezwungen abzudanken. Nach kurzer Regierungszeit der Söhne Milan und Michael wurde 1842 Karadjordjes Sohn Alexander durch die Skupschtina zum Fürsten gewählt. Unter ihm entwarf Garasanin 1844 das großserbische Programm, die Vereinigung aller Südslawen innerhalb der Donaumonarchie nuter serbischer Führung. 1858 wurde Alexander Karadjordje durch die Skupschtina abgesetzt und die Obrenoviç-Dynastie mit Milos Obrenoviç kam wieder an die Macht. Michael Obrenoviç, Sohn des Milos, erreichte 1867 den vollständigen Rückzug der Türken aus Serbien (Räumung der Festungen). Er stützte sich auf groß-serbische Omladina-BWwegung zur Vereinigung aller Südslawen in Kroatien. 1868 wurde er durch Anhänger der Karadordejvic ermordet, sein Neffe Milan I Obrenoviç wurde sein Nachfolger.
1878-1903 Auf dem Berliner Kongreß (1878), der zur Vermittlung zwischen den Großmächten einberufen wurde, sollte der Balkan neu gestaltet werden: Rumänien, Serbien und Montenegro wurden selbständig, Makedonien der Türkei zugesprochen und Bosnien und die Herzegowina der Verwaltung Österreichs unterstellt.

Während des Russisch-Türkischen Krieges von 1877 bis 1878 verbündeten sich Serbien und Russland innerhalb der panslawischen Bewegung, um die Türken auf dem Balkan zu besiegen. 1878 wurde auf dem Berliner Kongress die volle Unabhängigkeit Serbiens anerkannt und eine Gebietserweiternug nach Süden um die Gebiete Pirot, Nis und Vranje durchgeführt. Bosnien, die Herzegowina und Novi Pazar wurden nicht von Serbien gewonnen.

Mit österreichischer Hilfe proklamiert Milan 1882 das Königreich Serbien und ernannte sich selbst zum König. Er erklärte nach der Vereinigung Bulgariens mit Ostrumelien 1885 Bulgarien den Krieg. Die Serben wurden vernichtend geschlagen, eine Intervention Österreichs im Frieden von Bukarest (1886) verhinderte Gebietsverluste. Milan dankte zugunsten seines Sohnes Alexander ab.

1903-1912 Alexander I. Obrenoviç wurde infolge seiner autoritären und korrupten Herrschaft 1903 durch eine Offiziersverschwörnug ermordet. Die Nationalversammlung wählte Peter Karadjordjeviç (Peter I., 1903-1918) zum König. Nikola Paiç übernahm als Ministerpräsident die Führung der Außenpolitik und kehrte zu einer großserbischen, gegen Österreich-Ungarn gerichteten Politik zurück.

Die serbisch-österreichischen Beziehungen verschlechterten sich erheblich während des so genannten Schweinekrieges von 1905 bis 1907, einer Auseinandersetzung, die auf einer von Wien verhängten Viehimportsperre (über 80 % der Ausfuhr Serbiens) beruhte.

Der Konflikt spitzte sich nach 1908 weiter zu, nachdem Österreich Bosnien und Herzegowina annektiert hatte. Der Verfall des Osmanischen Reichs und die jungen Staaten mit nationalen Zielen, die unterschiedlichen Volksgruppen, den Balkan durchlaufende Volks- und Religionsgrenzen und andauernde Minderheitenprobleme führen zu ständigen Unruhen in dem Gebiet. Die Großmächte sind direkt (Österreich-Ungarn, Italien und Russland) oder indirekt (Deutschland, Frankreich, Großbritannien) in diese Konflikte verwickelt.

1912-1913 1912 und 1913 nahm Serbien aktiv an den Balkankriegen teil, einer militärischen Auseinandersetzung zwischen den christlichen Balkanstaaten und dem Osmanischen Reich. Der erste Balkankrieg war motiviert durch das Ziel, das türkische Makedonien aufzuteilen. Nach dem die Türkei 1913 eine Niederlage erlit, vermittelten die Großmächte – die Türkei musste alle ihre europäischen Besitzungen bis auf einen Gebietsstreifen um Konstantinopel (Linie Enos-Midia) aufgeben. Albanien wurde erstmals zu einem unabhängigen Fürstentum erklärt. Dadurch wurde die Strategie Serbiens, einen eigenen Adriahafen zu erlangen, durchkreuzt.

Der Streit um die Aufteilung Makedoniens zwischen Serbien und Bulgarien führte zu dem zweiten Balkankrieg. Bulgarien, das die Hauptlast des Krieges getragen hatte, wurde nach einem Angriff auf Serbien aus Mekdonien vertrieben. Nachdem Rumnien mit Ansprüchen auf die Süddobrudscha in den Krieg eingriff, trat Bulgarien im Frieden von Bukarest (1913) den Großteil der vorherigen Gewinne, nämlich das nördliche Makedonien an Serbien, die Süddobrudscha mit Silistra an Rumänien und die ägäische Küste an Griechenland ab. Serbien erhielt neben Makedonien auch die Bezirke Sanjak Novi Pazar und Kosovo-Mitohijan.

Der Friede von Bukarest brachte jedoch keine Entspannung der Lage, da den Serben weiter der Zugang zur Adria verwehrt wurde.

1914-1918 Die Situation war am 28.Juni 1914 bereits äußerst angespannt, als der österreichische Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, und seine Frau von dem serbischen Nationalisten Gavrilo Princip in Sarajevo (Bosnien und Herzegowina) ermordet wurden. Österreich erklärte Serbien daraufhin den Krieg, marschierte im August in das Land ein und löste so den 1.Weltkrieg aus. 1914 wird Serbien in der deutschen Öffentlichkeit als Drahtzieher für den Mord am österreichischen Thronfolger angesehen. „Serbien muß sterbien“ ist in den ersten Kriegswochen in Österreich wie in Deutschland eine gängige Straßenparole. Die Serben konnten die Angreifer bis Oktober 1915 abwehren, bis Bulgarien ebenfalls in Serbien einmarschierte. Im Dezember war das Land von den Mittelmächten besetzt.

Das 1915 in London gegründete Jugoslawische Komitee und die serbische Regierung unter dem Minsterpräsidenten Nikola Paiç erließen 1917 die Deklaration von Korfu, ein Fortsetzung des 1844 von Garasanin entworfenen großserbischen Programms.

1918-1941 In Agram (Zagreb) proklamierte im November 1918 ein Nationalrat den Zusammenschluss der Volksgruppen mit dem Königriech Serbien und Montenegro. Am 1. Dezember 1918 verkündete Prinzregent Alexander aus der Dynastie der Karadjordjes das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (Kraljevaina SHS). Diverse internationalen Verträgen (Saint-Germain, Trianon, Neuilly, Rapallo) gewann das neue Königreich Gebiete hinzu, verlor zugleich Fiume an Italien. Alexander Karadjordjes wurde 1921 König.

Der neue Staat stand von Anbeginn an unter starker innenpolitischer Belastung, die durch die unterschiedlichen Volksgruppen und gesellschaftlichen Strukturen hervorgerufen waren, besonders bei den Serben und Kroaten. Die Serber waren größtenteils orthodox und von balkanischer Kultur, die Kroaten römisch-katholisch und westlicher Kultur. Das Reich hatte rd. 13 Mio. Einwohner, darunter auch nichtslawische Minderheiten (im Norden deutsche Volksgruppen, eine ungarische Volksgrppe und im Süden albanische und türkische Minderheiten). Die Slowenen und Kroaten wollten sich nicht den zentralistischen Absichten der Serben, die die größte ethnische Gruppe stellten, anschließen. Besonders kompliziert war die Lage in Bosnien und Herzegowina. Dort gab es zwei ethnische Gruppen: Serben und Kroaten, ferner die religöse Gruppe der Muslime, die über die Hälfte der Bevölkerung ausmachten. 1921 setzten die Serben ihren Führungsanspruch durch, da ie zentralistisch geprägte Vidovdan-Verfassung erlassen wurde.

Diese Zersplitterung verhinderte eine stabile Regierung mit der Folge häufiger Wechsel bei der Regierung, politischen Attentate oder etwa Verweigerung von Parteien an der Mitarbeit im Parlament. Im Januar 1929 errichtete der 1934 ermordete König Alexander die Königsdiktatur. Das Land wird Jugoslawien (Südslawen) genannt. Alle Parteien wurden aufgelöst, 1931 eine neue Verfassung erlassen. Nach seinem Tod übte Prinz Paul für den minderjährigen Thronfolger Peter die Regentschaft aus. Zu Beginn des 2. Weltkriegs blieb Jugoslawien neutral. Die Konflikte in der Bevölkerung spitzten  sich immer weiter zu, Ende der 30er Jahre kam es immer häufiger zu Scharmützeln und Anfeindungen zwischen einzelnen Volksgruppen.

1941-1947 1941 griffen deutsche und italienische Truppen Jugoslawien an und besetzten es. Sie errichteten einen selbständigen faschistischen Staat „Unabhängiges Kroatien“ (Ustatscha), zu dessen Gebiet auch Bosnien und Herzegowina gehörte. 1941 bildeten sich verschiedene Partisanengruppen, die aber nicht nur die deutschen und italienischen Besetzer, sondern sich auch untereinander bekämpften: die Ustatscha-Bewegung, die königstreuen Cetnici, die Gruppe um Oberst Mihailovic und die kommunistische Volksbefreiungsarmee unter Josip Broz (Marschall Tito). Die Ustascha betrieb während des 2 Weltkrieges eine brutale Politik der ethnischen Säuberung, auf die Tito mit ähnlichen Mitteln reagierte.

Josip Broz Tito
Josip Broz Tito

1943 gewannen die Kommunisten unter Tito die Oberhand im Land. Tito bildete 1943 eine provisorische Regierung mit der Volksfront (KPJ, ab 1952 Bund der Kommunisten Jugoslawiens). Der Friedensvertrag von Paris führte dann zur Herstellung des Staates in den Grenzen von 1941, erweitert um die bislang italienischen Gebiete Istrien und Dalmatien.

Mit einer Bodenreform (Aug. 1945), der neuen Verfassung (1946), Ausrufung der Republik (Nov. 1945), Verstaatlichung der Wirschaft (1947) und Ausschaltung aller innenpolitschen Gegner erhilet Jugoslawien eine kommunistische Gesellschaftsstruktur. Die Föderative Volksrepublik Jugoslawien wurde 1945 Gründungsmitglied der UNO. Föderativ war das Land, weil aus den Sozialistischen Republiken Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Makedonien, Montenegro, Serbien und Slowenien besteht.

1947-1990 Tito weigerte sich, den Machtanspruch Stalins und die alleinige Führungsrolle der sowjetischen Kommunistischen Partei anzuerkennen. Dieser Konflikt führt zum Bruch mit dem restliche Ostblock. Die Kominform schloss Jugoslawien 1948 aus. Die UdSSR kündigte zugleich den Freunschafts- und Beistandspakt von 1945. Aufgrund der Wirtschaftsblockade durch den Ostblock suchte Jugoslawien westliche Hilfe und schloss 1954 mit der Türkei und Griecheland den Balkanpakt. Das Land wurde auf der Basis einer weitgehenden Selbstverwaltung verwaltet. Die nationalen Spannungen wurden durch föderative Struktur des Staates gebändigt. Um die starke Republik Jugoslawien nicht die Überhand gewinnen zu lassen, wurden 1974 auf deren Gebiet die autonomen Provinzen Kosovo mit Pristina als Hauptstadt und Wojwodoina mit Novi Sad als Hauptstadt gegründet.

Tito wurde zum Staatspräsident auf Lebenszeit bestimmt. Nach seinem Tod sollte sollte der Vorsitz im Präsidium jährlich nach einer festgelegten Reihenfolge unter den Bundesrepubliken wechseln. Dies sollte politische Stabilität in dem Vielvölkerstaat für die Zeit nach Titos Tod sichern.

Nach Titos Tod übernahm das Präsidium der Republik (8 Mitglieder aus je einem Vertreter der sechs Teilrepubliken und der zwei autonomen Provinzen) die Regierung. Mit dem Zerfall des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens gelang es nicht mehr, das gesamte Staatsgefüge auf neue Grundlagen zu stellen. 1980 kam es zu Unruhen, begehrten im Kosovo rd. 2 Mio. Albaner die Unabhängigkeit von Serbien. In dieser Zeit wurde der spätere serbische und jugoslawische Präsident Slobodan Milosevic immer mächtiger. 1984 machte ihn sein Ziehvater Ivan Stambolic (Vorsitzender der serbischen Sozialischen Partei) zum Leiter der Belgrader Regionalgruppe. Seit 1987 war er Präsident von Serbien. Die Unruhen in Albanien dauerten in dieser Zeit an und Milosevic fordert 1989, die Autonomie des Kosovo und der Wojwodina wieder aufzuheben. Als Stambolic sich dem widersetzt, stürzt Milosevic den Vorsitzenden und wird 1990 selber zum Vorsitzenden der Sozialistischen Partei Serbiens und zugleich zum mächtigsten Mann in Jugoslawien. Stambolic verschwand im September 2000 spurlos.

1990
Slobodan Milosevic
Slobodan Milosevic

1990 kam es zur Aufhebung der Autonomie von Kosovo und Wojwodina. Die Kommunistische Partei Jugoslawien verzichtete auf ihre Vormachtstellung in Jugoslawien. Milosevic schlägt in dieser Zeit offen einen großserbischen, nationalistischen Kurs ein, der die Unabhängigkeitbestrebungen Sloweniens und Kroatiens noch weiter förderte. Serbien versuchte durch militärischen Druck den Bestand der Föderation zu retten. Ziel war es, die dominierende Position Serbiens zu wahren und die serbischen Minderheiten in den anderen Republiken zu schützen.

1991 Nach der Erklärung der Souveränität Sloweniens und Kroatiens stürtzt die ganze Region Mitte 1991 in einen Bürgerkrieg, in dem Serbien (über die serbisch dominierte föderative jugoslawische Volksarmee) kroatische und bosnische Serben unterstützte, die die Schaffung eines Großserbien anstrebten. Die jugoslawische Bundesarmee rückte Ende Juni 1991 in die abtrünnigen Gebiete vor, um sie im Staatenbund zu halten. Sie zog um die slowenische Hauptstadt einen Belagerungsring und nahm die Grenzstationen unter ihre Kontrolle. Kurz darauf beschloss die jugoslawische Regierung nach Intervention der Europäischen Gemeinschaft und einer vorübergehenden Kpompromisslösung die Soldaten innerhalb 3 Monaten aus Slowenien abzuziehen. In Kroatien wurde keine so schnelle Lösung gefunden. Am 26. August 1991 griff die jugoslawische Bundesarmee die kroatische (ostslawonische) Stadt Vukovar an mit Panzern an, am 07. Oktober wurde die kroatische Hauptstadt Zagreb von der jugoslawischen Luftwaffe bombardiert. Nach zahlreichen gescheiterten Waffenruhen und der Verhängung begrenzter Sanktionen über Serbien durch die Europäische Gemeinschaft wurde schließlich am 23. November ein Waffenstillstand zwischen Serbien und Kroatien unterzeichnet.
1992-1999 Ende 1991/Anfang 1992 erkannten die Staaten der EG Slowenien und Kroatien als souveräne Republiken an. Ende April 1992 kam es zur endgültigen Abspaltung. Im Frühjahr 1992 begannen in Bosnien-Herzegowina Kämpfe: Die Bosnier verlangten nach einer Volksabstimmung auch die Unabhängigkeit. In Bosnien-Herzegowina leben Kroaten, Serben und (moslemische) Bosnier. Jede dieser 3 Volksgruppen wollte die Herrschaft über Bosnien und Herzegowina erlangen. Es begann ein weiterer, langer Bürgerkrieg, in dem alle Volksgruppen sich gegenseitig verdrängten. Jugoslawien unterstützte die serbische Bevölkerung in Bosnien massiv mit finanziellen und militärischen Mitteln.

Die ehemalige jugoslawische Republik Makedonien war faktisch unabhängig, musste aber noch ein weiteres Jahr auf die offizielle Anerkennung warten, da das Problem der Namensgebung der neuen Republik noch nicht gelöst war.

Serbien und Montenegro, die beiden einzigen im ehemaligen Jugoslawien verbliebenen Republiken, kündigten am 27. April 1992 die Gründung der Föderativen Republik Jugoslawien an, die als Nachfolgestaat der ehemaligen Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien deklariert wurde. Nach der Verfassung war Jugoslawien eine pluralistische, parlamentarischen Demokratie mit freier Marktwirtschaft, Freiheit des öffentlichen Wirkens, sozialer Gerechtigkeit, Menschenrechten und Gleichheit aller Bürger.

Im Mai 1992 hatten nationalistische Führer der überwiegend albanischen Bevölkerung des Kosovo illegale Parlamentswahlen im Kosovo organisiert. Bei diesen Wahlen setzte sich das Demokratische Bündnis Kosovos durch. Das neu gewählte Parlament verkündete die Gründung der unabhängigen Republik Kosovo mit Ibrahim Rugova als Präsidenten. Serbien war in der Lage, die Kontrolle über die Provinz zu behalten, ohne dass erneut ein Bürgerkrieg ausbrach.

Wegen Serbiens anhaltender Unterstützung für die bosnischen Serben in dem Bürgerkrieg in Bosnien und Herzegowina wurde am 30. Mai 1992 ein Wirtschaftsembargo über die Republik verhängt.

Im September 1992 beschloss die Generalversammlung der Vereinten Nationen, dass die selbsternannte Föderation nicht den Sitz der ehemaligen Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien übernehmen könne und schloss sie aus der Generalversammlung aus. Es gab bis 2000 keinen weiteren offiziellen Versuch der Föderativen Republik Jugoslawien, die formelle Anerkennung der UN zu erwerben.

Im September 1994 veranlasste die Bundesregierung Jugolawiens eine Blockade der bosnischen Serben, und in den folgenden Monaten wurden einige der internationalen Sanktionen aufgehoben.

Am 21. November 1995 wurde nach dreiwöchigen Verhandlungen in Dayton (Ohio) von den Präsidenten Bosniens, Kroatiens und Serbiens ein Friedensvertrag paraphiert, der den Krieg in Bosnien und Herzegowina beendete (am 14. Dezember 1995 in Paris unterzeichnet). Die von den Vereinten Nationen verhängten Sanktionen wurden am 23. November 1995 für beendet erklärt. Nachdem Frankreich als erstes Land Westeuropas die Föderative Republik Jugoslawien am 22. Februar 1996 völkerrechtlich anerkannt hatte, vollzogen die anderen westeuropäischen Länder diesen Schritt unmittelbar nach der am 8. April 1996 erfolgten gegenseitigen Anerkennung der Föderativen Republik Jugoslawien und der Republik Makedonien.

Die innenpolitische Lage in Serbien beruhigte sich hingegen nicht. Im Kosovo wurden die Albaner vertrieben, in Armut und Arbeitslosigkeit getrieben. Auch im Kernland erhöhte sich erneut zu Beginn des Jahres 1996 die Spannung. Die erzwungene Schließung eines oppositionellen privaten Fernsehsenders sowie die Nichtanerkennung der Ergebnisse der Kommunalwahlen lösten zahlreiche Demonstrationen aus, bei denen die Teilnehmer u. a. auch den Rücktritt der Regierung Miloseviç forderten. Nach drei Monate andauernden Protesten wurde der Wahlerfolg in der Opposition ein einigen größeren Städten von der serbischen Regierung anerkannt. Milosevic nimmt Vuk Draskovic, einen der beiden Führer der Opposition, in die Regierung auf. Milosevic selber wird 1997 zum Präsidenten der Bundesrepublik – ein ursprünglich repräsentativ ausgestaltetes Amt.

In 1998 nehmen die Gewalttätigkeiten im Kosovo zu. Die sogenannte „Befreiungsarmee des Kosovo“ (UCK) unterstreicht mit Anschlägen auf serbische Sicherheitskräfte und kosovo-albanische „Kollaborateure“ ihren Willen, die Unabhängigkeit der Provinz mit Gewalt durchzusetzen. Bei der erneuten Wahl eines „Schattenparlaments“ und eines „Schattenpräsidenten“ siegen die LDK (22. März 1998). Die UCK kontrolliert Mitte 1998 nahezu 40% der Provinz. Mit dem Einsetzen der serbischen Gegenmaßnahmen in Form massiver Operationen von Spezialpolizei gelingt es Belgrad, zum einen die Grenzsicherung zu optimieren und somit die logistische Unterstützung aus Albanien zu erschweren sowie die unorthodox organisierte UCK aus allen bereits „befreiten“ Gebieten zu vertreiben.

Gleichzeitig rückt die Flüchtlingsproblematik in den Mittelpunkt des Interesses der Internationalen Gemeinschaft. Die Zahl von knapp 300.000 Flüchtlingen und Zehntausenden unter freiem Himmel lebenden Menschen zwingt die Internationale Gemeinschaft zur Verabschiedung der UN-Resolution 1199, die eine sofortige Einstellung der Feindseligkeiten, Abzug der serbischen Sonderpolizei sowie die Wiederaufnahme konstruktiver Verhandlungsgespräche verlangt.

Es folgen eine lange Zeit zäher Verhandlungen: Nach der Androhung von NATO-Luftschlägen lenkt Milosevic ein und vereinbart mit dem US-Sondergesandten Holbrooke u.a. die Entsendung einer unbewaffneten OSZE-Verifikationsmission und der unbewaffneten Luftaufklärung der NATO zur Überprüfung der Umsetzung der VN-Resolution 1199/98. Die Diskriminierung der Albaner endet gleichwohl nicht.

1999 Im Januar 1999 werden die ersten Massengräber entdeckt. Ende Januar wird der NATO-Generalsekretär zu Luftschlägen gegen Jugoslawien authorisiert. Es kommt zu mehreren Verhandlungen zwischen Milosevic unter anderem mit dem Außenminister Deutschlands, dem UN-Sondregesandten Richard Holbrooke. Eine friedliche Lösung im Sinne der westlichen Verhandlungsführer lehnte Milosevic kategorisch ab. Er war nicht bereit das Friedensabkommen von Rambouillet im März 1999 zu unterzeichnen, da dieses für ihn unannembare Forderungen stellte. Als er im Kosovo massiv militärisch interveniert und systemathisch die Kosovaren vertreibt, Völkermord und ethnische Säuberungen begeht, entschließt sich die NATO am 24. März 1999 zu Luftangriffen, „um Milosevic an den Verhandlungstisch zurückzubringen“.

Milosevic zieht seine paramilitärischen Einheiten und Sonderpolizei indes nicht aus dem Kosovo zurück, garantiert nicht die Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Heimat, stimmt keiner friedlichen Lösung im Kosovo-Konflikt zu und ist auch nicht bereit, eine (bewaffnete) NATO-‚Friedenstruppe‘ ins Land zu lassen. Verhandlungen des ukrainischen Außen- und Verteidigungsministers, des russischen Ministerpräsidenten, des russischen Sonderbeauftragten Tschernomyrdinin Belgrad während des Krieges verlaufen ergebnislos. Parallel dazu kommt es zu einer Flüchtlingswelle aus dem Kosovo. Hundertausende Kosovaren verlassen zu Fuß das Land und überfüllen innerhalb weniger Tage albanische und mazedonische Flüchtlingslager.

Der finnische Präsident Ahtisaari beginnt Mitte Mai im Auftrag der EU mit Verhandlungen. Schließlich stimmt das serbische Parlament DEM Friedensplan der G-8-Staaten am 3. Juni 1999 zu. Die serbischen Truppen und die Sonderpolizei ziehen sich aus dem Kosovo zurück. Die Luftangriffe werden ausgesetzt, Natotruppen rücken in den Kosovo ein.

Es wird eine UN-Übergangsverwaltung für Kosovo (UNMIK) eingerichtet, die Kosovo-Friedenstruppe (KFOR) mit Soldaten aus verschiedenen Ländern ist für die Sicherheit zuständig. Die Situation und Zukunft des Kosovo bleibt bis auf weiteres ungeklärt.

2000 Anfang Oktober 2000 wird das Milosevic-Regime weitgehend friedlich beendet. Vorausgegangen waren landesweite Proteste, Demonstrationen und Streiks, die nach den jugoslawischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen Ende September begonnen hatten. Am Abend des 5. Oktober erklärt Oppositionsführer Vojislav Kostinica den international geächteten Präsidenten Slobodan Milosevic für abgesetzt. Kurz darauf wird Kostunica als neuer Präsident Jugoslawiens vereidigt. Der montenegrinische Präsident Milo Djukanovic anerkennt Kostunica nicht als neuen Präsidenten, da der Großteil der Bevölkerung Montenegros (wie auch im Kosovo) die Wahl boykottiert hat. Djukanovic drängt auf eine starke Eigenständigkeit seiner Teilrepublik.

Zum neuen serbischen Regierungschef wird der ehemalige Oppositionsführer Zoran Djindjic ernannt.

Die EU-Außenminister beschließen, nach dem Machtwechsel das im Zusammenhang mit dem Kosovo-Krieg 1999 gegen Serbien verhängte internationale Ölembargo sowie das bis 2001 bislang nur ausgesetzte Flugverbot sofort und bedingungslos aufzuheben. Am 4. November bestätigt das Parlament in Belgrad die neue jugoslawische Regierung von Ministerpräsident Zoran Zizic. Jugoslawien findet den Weg in die internationale Staatengemeinschaft zurück. Zunächst wird Jugoslawien Vollmitglied im Stabilitätspakt für Südosteuropa, am 1. November Vollmitglied der Vereinten Nationen und am 10. November vollwertiges Mitglied in die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).

Ein Unruheherd bleibt das Kosovo. Immer wieder kommt es im Grenzgebiet zu Südserbien zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen albanischen Rebellen und serbischen Polizisten. Bei den ersten freien Wahlen im Kosovo am 28. Oktober erringt die Partei des moderaten Albaner-Führers Ibrahim Rugova (LDK) einen deutlichen Sieg. Sie kommt auf 58 Prozent. Die Nachfolgepartei der Albanermiliz UCK, die PDK von Hashim Thaci, bekommt 27,3 Prozent der Stimmen.

2001 Serbien und MontenegroDie mit der Ankündigung der Auszahlung von finanziellen Hilfen in Milliardenhöhe forcierte Auslieferung Milosevic an das Kriegsverbrechertribunal der Vereinten Nationen am 28. Juni 2001 führt einerseits zu einer Regierungskrise und Protesten in Jugoslawien (Zoran Zizic, Premierminster der Bundesrepublik Jugoslawien tritt zurück). Umgekehrt war dies ein weiterer Schritt Jugoslawiens zurück in die Staatengemeinschaft. Zoran Djindjic – Premier in Serbien – bekundete Anfang Juli 2001 die Absicht, ein Konzept für die Aufnahme in die EU zu präsentieren.

Die Auslieferung Milosevic war eine Bedingung für den Start von finanzieller Unterstützung des völlig ausgebluteten Jugoslawiens. Die Geberländer beschließen kurz nach der Auslieferung eine finanzielle Unterstützung in Höhe von mehreren Milliarden EUR für Jugoslawien.

2003 Mit der neuen Verfassung (2003) wurde die 1992 gegründete Bundesrepublik Jugoslawien in einen losen Staatenbund umgewandelt. Sie änderte ihren Namen in Serbien und Montenegro.
2006 2006 erklärte sich Montenegro unabhängig und spaltete sich als eigener Staat ab. Die Hauptstadt ist Podgorica.
2008 Am 17. Februar erklärte sich auch die Republik Kosovo für unabhängig. Während die Unabhängigkeit Montenegros von Serbien anerkannt wurde, gab es über die der ehemaligen Provinz Kosovo Streit. Der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag hat jedenfalls am 22. Juli 2010 entschieden, dass die Abspaltung der Provinz Kosovo nicht gegen internationales Recht verstoße.

Europäisches Filmerbe

Bleiben Filme auch für künftige Generationen erhalten? Während Bücher oft Jahrhunderte überdauern, gelten 80 % der Stummfilme bereits als verloren und auch neue Filme des digitalen Zeitalters sollen  gefährdet sein.

Ein von der Generaldirektion für Informationsgesellschaft und Medien der Europäischen Kommission veröffentlichter Bericht zum Fortbestand des europäischen Filmerbes wirft auch Fragen auf.  Der erste Bericht wurde im August 2008 angenommen. Die Ergebnisse seien  nur eine erste Bewertung der Risiken und Chancen des digitalen Zeitalters für das europäische Filmerbe. Die Europäische Kommission hat eine unabhängige Studie in Auftrag gegeben, die sich mit weiteren Einzelheiten dieser Frage befassen wird. Nach Sichtung der Ergebnisse der Studie wird die Europäische Kommission prüfen, inwieweit eine Überarbeitung der Empfehlung zum Filmerbe geeignet erscheint, diese Frage anzugehen.

Der von der Generaldirektion Informationsgesellschaft und Medien der Europäischen Kommission veröffentlichte Bericht unterstreicht, dass die europäischen Einrichtungen zum Erhalt und zum Schutz des Filmerbes mit Blick auf die Sicherung und Zugänglichkeit des europäischen Filmerbes neue Wege beschreiten sollten. Die herkömmliche Art und Weise, empfindliches Filmmaterial in verschlossenen Kästen in Tresorräumen aufzubewahren, gewährleistet nicht dessen Erhalt für die Nachwelt oder seine Zugänglichkeit. Der Bericht fordert ein neues Zugangsmodell im digitalen Zeitalter, damit künftige Filmemacher und das Publikum weiterhin in den Genuss der europäischen Filmkultur kommen können.

Zwar bietet das digitale Zeitalter neue Möglichkeiten, Filme herzustellen und zu präsentieren, es stellt aber auch die herkömmliche Art, Filme zu sammeln und zu erhalten, vor neue Herausforderungen. Die digitalen Technologien entwickeln sich ständig weiter und Technische Abspielgeräte für Tonbänder oder Videocassetten sind unter Umständen nur noch antiquarisch erhältlich. Selbst bei den digitalen, insbesondere bei den proprietären Dateiformaten können entsprechende Programme fehlen.  Die Einrichtungen zum Erhalt und zum Schutz des Filmerbes müssen mit der Entwicklung Schritt halten und zum Erhalt europäischer Filme neue Technologien übernehmen und weiter voranbringen.

Die digitalen Technologien verändern grundlegend die Art und Weise, wie das europäische Filmerbe langfristig gesammelt, wiederhergestellt und erhalten wird. Sie beeinflussen auch die Art und Weise, wie das Filmerbe zugänglich gemacht werden kann – online und durch digitale Projektion. Eines der Probleme, die der vollständigen Ausschöpfung des Potentials der neuen Technologien noch im Wege stehen, sind jedoch die fehlenden rechtlichen Mechanismen, die die kulturelle und pädagogische Nutzung von Filmen und entsprechendem Filmmaterial in effizienter Weise möglich machen.

Teilweise wird argumentiert, das Urheberrecht solle (so etwa Ansgar Ohly) die Verleger veranlassen, für eine langfristige Verfügbarkeit zu sorgen. Tatsächlich werden  in Deutschland  Filme vor allem im Bundesarchiv gesammelt (so wie die die Deutsche Nationalbibliothek die zentrale Archivbibliothek ist). Die Regelungen sehen eine Kopierlizenz für das Bundesarchiv zum Zweck der konservatorischen Sicherung durch Duplikate sowie eine genehmigungsfreie Sichtungsmöglichkeit dieser Duplikate in den Räumen des Bundesarchivs vor. Auch in Österreich nehmen zwei von der öffentlichen Hand geförderte Institutionen diese Aufgabe war: Das Filmarchiv Austria und das Österreichische Filmmuseum.

Der Bericht enthält eine Darstellung der bewährten Verfahren, die von den Mitgliedstaaten angewandt werden, um die Herausforderungen des analogen und digitalen Filmerbes zu bewältigen. So enthalten einige nationale und regionale Filmförderprogramme eine Klausel, die den begünstigten Filmproduzenten verpflichten, der Förderstelle oder einer öffentlichen Einrichtung zum Erhalt und zum Schutz des Filmerbes für die nichtkommerzielle Nutzung in der EU Rechte einzuräumen. Spanien und Dänemark sind hier beispielhaft: Das dänische Filminstitut hat das Recht, geförderte Filme in seinen eigenen Kinos zu zeigen und geförderte Dokumentar- und Kurzfilme online zur Verfügung zu stellen. Spanien erlaubt kulturelle Filmvorführungen geförderter Filme zwei Jahre nach deren Erstvorführung.

Ein erteilter Patentanspruch hat Rechtsnormcharakter

Der BGH behandelt ein Patent wie ein virtuelles Grundstück. Wer das Grundstück betreten will, muss den Inhaber um eine Genehmigung fragen. Diese wird entweder verweigert oder erteilt, wobei für die Erteilung zumeist ein Entgelt zu bezahlen ist. Da es sich um ein virtuelles Grundstück handelt, sind die Grenzen oft nicht so genau zu erkennen.

Dies ist insbesondere aus mehreren Gründen problematisch: Je leichter ein Patent zu erlangen ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Dritter unbeabsichtigt das virtuelle Grundstück eines anderen nutzt. Umgekehrt werden immer mehr Patente erteilt. Je kleiner ein Unternehmen ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass es ein Patent übersieht oder nicht erkennt, dass das Patentamt einer altbekannten Technik eine Schutz gewährt hat oder einfach die komplex formulierten Patentansprüche schlichtweg nicht versteht. Würden die Unternehmen den Anforderungen der Rechtsprechung an die Überwachung des täglichen Patentgeschehens gestellt werden, erfüllen, würden zig-Tausende von kleinen und mittleren Unternehmen bis hin zu Programmierern mit der jedenfalls vollkommen unproduktiven Tätigkeit beschäftigen, herauszufinden, ob sie  nun ihr Arbeitsergebnis verwerten dürfen oder nicht.

Wenn man die rechtlichen Folgen eines Patentverletzung bedenkt,

  • Unterlassen für die Zukunft;
  • Auskunftsanspruch über Kunden, Verkaufszahlen, Umsätze oder Werbung — Rechnungslegung;
  • Schadensersatz oder Bezahlung eines fiktiven Lizenzentgelts;
  • unter Umständen — wenn man dem Begehren des Patentinhabers nicht nachgibt — Prozesskosten, die für die erste Instanz in der Regel schon  50.000 Euro und mehr betragen können.

können die Folgen gerade bei den kleineren Unternehmen das Ende bedeuten. Aber auch wenn man die Anmeldungen bei den verschiedenen Patentämtern beobachtet, entstehen ganz erhebliche Kosten, die insbesondere die Neueinsteiger und kleinen erheblich belasten. Wer neben den Inhabern an den Patenten besonders verdient und deren Vorteile gerne im großen und kleinen Kreis anpreist (wie McDonalds den Nährwert seiner Fritten), das kann man an den Google-Anzeigen oben auf dieser Seite erkennen.

Der Großteil der Patentstreitigkeiten betrifft zwei Fragen:

  1. Ist  das Patent überhaupt wirksam erteilt worden oder wurde das Patent vom Patentamt zu Unrecht geschaffen. Gerade in den Fällen, in denen die Frage zweifelhaft ist, ist es für Patentprüfer  einfachsten, einer Patentanmeldung stattzugeben, weil er dann am wenigsten Arbeit mit dem Patent hat. Das Patentamt überlässt es den Unternehmen, sich  über die Wirksamkeit des Patents zu  streiten.
  2. Wird durch einen bestimmten Gegenstand oder die Anwendung eines bestimmten Verfahrens das Patent verletzt.

In diesem Rahmen wird die Eigentumslogik des BGH noch bedenklicher. Wenn ein Patent erteilt, aber unverständlich formuliert wurde, dürfe der Richter (die  Patentkammern der Landgerichte sind mit spezialisierten Richtern besetzt) sich nicht darauf zurückziehen, dass er den Erfindungsgegenstand ganz oder teilweise nicht bestimmen könne. Kehrt man nochmals auf das Beispiel mit dem  Grundstück zurück, bedeutet dies: Wenn nach zwei Instanzen und Sachverständigengutachten die Grenzen des Grundstücks sich nicht genau feststellen lassen, darf der Richter nicht sagen, er kann das virtuelle Grundstück nicht genau erkennen und deshalb auch nicht sagen, ob der angebliche Verletzer nun das Grundstück betreten hat oder nicht.

Ist ein Patent einmal erteilt, muss vielmehr trotz unerkennbarer Grenzen ein virtueller Zaun ermittelt werden. Das geschieht im Zweifel vor den Zivilgerichten. Wenn diese Grenzen feststehen, darf der Inhaber von dem angeblichen Verletzer die oben genannten Ansprüche geltend machen. Wenn niemand gegen das erteilte Patent vorgeht, kann sich das teure Vergnügen noch oft wiederholen.

Der BGH bestätigte ferner  seine Auffassung, dass ein erteilter Patentanspruch Rechtsnormcharakter hat. Das bedeutet, der Patentanmelder kann das Patentamt veranlassen, Regelungen zu erlassen, die den Charakter von Gesetzen haben. Der Patentanmelder wird so zum kleinen Gesetzgeber. Wenn es sich um einen aktiven Patentanmelder handelt, der eine Vielzahl von Patenten innehat, kann er so schon zum großen Gesetzgeber werden, der in manchen Branchen genau bestimmen kann, wer was darf und wer nicht. In der Regel zermahlen die großen Patentinhaber die kleinen und sorgen so dafür, dass Neuensteiger schnell wieder zu Aussteigern werden.

Urteil

Leitsatz: Die Patentverletzungsklage darf nicht mit der Begründung abgewiesen werden, Angaben des Patentanspruchs seien unklar und ihr Sinngehalt sei unaufklärbar, so der BGH im Urteil vom 31. März 2009 (Aktenzeichen: X ZR 95/05, Vorinstanzen: OLG München, LG München I)

Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 31. März 2009 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Melullis, den Richter Scharen, die Richterin Mühlens und die Richter Asendorf und Gröning
für Recht erkannt:

  1. Auf die Revision der Klägerin wird das am 16. Juni 2005 verkündete Urteil des 6. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München aufgehoben.
  2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Begründung

  1. Tatbestand:

    Die Klägerin ist eingetragene Inhaberin des europäischen Patents 0 916 004 (Klagepatents), das zwölf Patentansprüche umfasst und dessen Anspruch 1 in der Verfahrenssprache ohne Bezugszeichen wie folgt lautet:

    ,,Straßenbaumaschine zum Bearbeiten von Fahrbahnen,

    • mit einem selbst fahrenden Fahrwerk bestehend aus einer lenkbaren vorderen Fahrwerkachse mit mindestens einem Stützrad und zwei hinteren Stützrädern,
    • mit einem im Bereich der hinteren Stützräder angeordneten Fahrstand für einen Fahrzeugführer auf einem von dem Fahrwerk getragenen Maschinenrahmen,
    • mit einer in oder an dem Maschinenrahmen gelagerten Arbeitseinrichtung, die auf einer Seite, nämlich auf der so genannten Nullseite des Maschinenrahmens, in etwa bündig mit diesem abschließt,
    • mit einem Antriebsmotor für die für den Antrieb der Arbeitseinrichtung und den Fahrbetrieb benötigte Antriebsleistung,
    • wobei das auf der Nullseite befindliche hintere Stützrad aus einer über die Nullseite vorstehenden äußeren Endposition in eine eingeschwenkte innere Endposition verschwenkbar ist, in der das Stützrad nicht über die Nullseite übersteht,
    • dadurch gekennzeichnet, dass das schwenkbare Stützrad über ein in einer horizontalen Ebene liegendes, mit einer Antriebsreinrichtung gekoppeltes Getriebe von der äußeren Endposition unter Beibehaltung der Laufrichtung in die innere parallel verschobene Endposition verschwenkbar ist.

  2. Die Beklagte vertreibt Kaltfräsen in zwei Ausführungsformen (xx1 = angegriffene Ausführungsform 1 und xx2 = angegriffene Ausführungsform 2).
  3. Die Klägerin nimmt die Beklagte deshalb wegen Patentverletzung auf Unterlassung, Rechnungslegung und Schadensersatzfeststellung in Anspruch.
  4. Die Beklagte weist den Patentverletzungsvorwurf zurück. Beide angegriffenen Ausführungsformen verwirklichten das die räumliche Anordnung des Fahrstandes betreffende Merkmal des Patentanspruchs 1 (= zweiter Spiegelstrich) nicht. Bei der angegriffenen Ausführungsform 2 seien ferner die nach dem ersten Spiegelstrich im Patentanspruch 1 angegebenen Merkmale teilweise und das im letzten Spiegelstrich benannte Merkmal nicht vorhanden. Im Übrigen stehe ihr auch ein Weiterbenutzungsrecht nach § 12 PatG zu.
  5. Das Landgericht hat die Beklagte im Wesentlichen antragsgemäß verurteilt. Beide angegriffenen Ausführungsformen verwirklichten das die räumliche Anordnung des Fahrstandes betreffende Merkmal wortsinngemäß. Bei der angegriffenen Ausführungsform 2 seien ferner auch die beiden weiteren streitigen Merkmale wortsinngemäß bzw. in abgewandelter Form verwirklicht. Auf ein Vorbenutzungsrecht nach § 12 PatG könne sich die Beklagte nicht berufen, weil das hierfür ins Feld geführte Modell einer Fräse nicht von allen Merkmalen des Patentanspruchs 1 Gebrauch mache.
  6. Die Beklagte hat sich hiergegen mit der Berufung gewendet. Das Oberlandesgericht hat bei dem bereits erstinstanzlich hinzugezogenen gerichtlichen Sachverständigen ein Ergänzungsgutachten eingeholt und diesen Sachverständigen mündlich angehört. Aufgrund dieser Beweiserhebung hat es die Klage unter Aufhebung des angefochtenen Urteils abgewiesen.
  7. Hiergegen wendet sich nunmehr die Klägerin mit der vom Senat zugelassenen Revision und dem Antrag, die landgerichtliche Verurteilung wieder herzustellen.
  8. Die Beklagte tritt diesem Begehren entgegen.
  9. Entscheidungsgründe:

    Die zulässige Revision der Klägerin hat in der Sache Erfolg. Sie führt zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

  10. 1. Das Berufungsgericht hat die Abweisung der Patentverletzungsklage wie folgt begründet:
  11. Es müsse zunächst der Gegenstand der geschützten Erfindung festgestellt werden. Hierzu gehöre auch die Ermittlung des Sinngehalts der die räumliche Anordnung des Fahrstandes betreffenden Anweisung im Patentanspruch 1. Die nötige Feststellung, was das Patent unter diesem Merkmal verstehe, sei aber trotz der erfolgten Inanspruchnahme sachverständiger Hilfe nicht möglich, weil der gerichtliche Sachverständige sich außerstande gesehen habe, eine Definition dieses Merkmals anzugeben. Es könne deshalb nicht festgestellt werden, ob der Fahrstand der angegriffenen Ausführungsformen, der sich knapp vor den hinteren Stützrädern befinde, „im Bereich der hinteren Stützräder“ liege, und eine Prüfung der angegriffenen Ausführungsformen darauf, ob sie eine wortsinngemäße oder äquivalente Verletzung des Klagepatents darstellten, sei nicht möglich.
  12. 2. Mit dieser Begründung kann die Patentverletzungsklage nicht abgewiesen werden.
  13. a) Richtig ist allerdings, dass sich der Schutzbereich einer patentierten Lehre zum technischen Handeln, deren Verwirklichung behauptet ist, aus dem betreffenden Patentanspruch ergibt (Art. 69 EPÜ bzw. – für das deutsche Patentrecht – § 14 PatG) und dass deshalb im Patentverletzungsprozess der erste Schritt bei der Entscheidungsfindung darin besteht, den Wortlaut dieses Patentanspruchs dahin auszulegen, welcher Sinngehalt ihm zukommt (st. Rspr., z.B. BGHZ 171, 120 Tz. 18 f. – Kettenradanordnung; BGHZ 172, 108 Tz. 13 – Informationsübermittlungsverfahren I). Da im Streitfall der Patentanspruch 1 auch Angaben zur räumlichen Anordnung des Fahrstandes enthält, kann ferner nicht beanstandet werden, dass das Berufungsgericht auch insoweit eine inhaltliche Erfassung des geschützten Gegenstands für notwendig gehalten hat. Auch das steht in Einklang mit Art. 69 EPÜ (bzw. § 14 PatG) und berücksichtigt die Rechtsprechung des Senats, dass der Schutzbereich eines Patents keine Unterkombination der Merkmale der beanspruchten technischen Lehre umfasst (BGHZ 172, 798 Tz. 26 ff. – Zerfallszeitmessgerät).
  14. b) Im Übrigen beruht das angefochtene Urteil jedoch auf grundlegenden Rechtsfehlern, wie die Revision zu Recht rügt.
  15. (1) Die Ausführungen im angefochtenen Urteil legen die Deutung nahe, das Berufungsgericht sei davon ausgegangen, der Sinngehalt eines Patentanspruchs bzw. eines zu ihm gehörenden Merkmals sei ein Umstand, der als oder wie eine klagebegründende Tatsache zur Überzeugung des Gerichts mittels gesetzlich zugelassener Beweismittel dargetan sein müsse; bei verbleibenden Zweifeln müsse deshalb die Klage abgewiesen werden („non liquet“).
  16. Dabei wird verkannt, dass ein erteilter Patentanspruch Rechtsnormcharakter hat (so wörtlich Sen.Beschl. v. 8.7.2008 – X ZB 13/06 Tz. 13, GRUR 2008, 887 – Momentanpol II) und es eine Rechtsfrage ist, was sich aus einem Patentanspruch als geschützter Gegenstand ergibt (st. Rspr. seit BGHZ 142, 7 – Räumschild, vgl. z.B. BGHZ 160, 204 – Bodenseitige Vereinzelungseinrichtung). Damit verbietet es sich, diese Frage unbeantwortet zu lassen. Denn in der verbindlichen Beantwortung von Rechtsfragen besteht die Aufgabe des angerufenen Gerichts, von der es auch dann nicht entbunden ist, wenn die Rechtsnorm unklar oder deren Auslegung schwierig ist. Gerade im Hinblick auf die Patentauslegung hat der Senat auch schon wiederholt ausgesprochen, dass hiermit unter anderem etwaige Unklarheiten behoben werden müssen (z.B. BGHZ 150, 149 – Schneidmesser I; Sen.Urt. v. 28.10.2003 – X ZR 76/00, GRUR 2004, 413 – Geflügelkörperhalterung). Das duldet nicht, dass der Verletzungsrichter sich darauf zurückzieht, den Erfindungsgegenstand ganz oder teilweise nicht bestimmen zu können. In jedem Fall hat das Verletzungsgericht diejenige Bedeutung der Angaben des auszulegenden Patentanspruchs zu bestimmen, die nach dem sonstigen Inhalt der Patentansprüche unter Berücksichtigung von Beschreibung und Zeichnungen als sinnvoll erkannt werden kann. Nur das steht auch in Einklang mit der Erfahrung, dass Fachleute bestrebt sind, einem Patent einen sinnvollen Gehalt zu entnehmen (Sen.Beschl. v. 8.7.2008 – X ZB 13/06 Tz. 21, GRUR 2008, 887 – Momentanpol II; Sen.Urt. v. 23.10.2007 – X ZR 275/07 Tz. 19).
  17. Vergeblich verweist die Beklagte demgegenüber darauf, dass ausweislich Art. 84 Satz 2 EPÜ der Anmelder bei der Formulierung seiner Patentansprüche die Verantwortung für deren Klarheit und Deutlichkeit trage. Daraus folgt nicht die Zulässigkeit eines Verzichts auf ein Auslegungsergebnis im Patentverletzungsprozess. Eine Unklarheit im Ausdruck kann lediglich Anlass bieten, der betreffenden Angabe im Patentanspruch einen beschränkten Sinngehalt bis hin zum engstmöglichen sinnvollen Verständnis zuzuweisen, wenn anders der im Protokoll über die Auslegung des Art. 69 EPÜ enthaltenen Vorgabe, bei der Patentauslegung auch ausreichende Rechtssicherheit für Dritte zu wahren, nicht hinreichend Rechnung getragen werden kann. Nachdem ein Patent mit dem im Nachhinein vom Verletzungsgericht als unklar empfundenen Wortlaut erteilt ist, hat nur in diesem Sinne das Schlagwort Berechtigung, ein offenes Auslegungsergebnis gehe zu Lasten des Patentinhabers. Die Versagung jeglichen Patentschutzes, zu dem die vom Berufungsgericht für zulässig und geboten gehaltene Vorgehensweise führt, ist im Übrigen auch deshalb nicht mit der geltenden Gesetzeslage vereinbar, weil die Patenterteilung dem Patentinhaber aus jedem Patentanspruch Rechte zuweist, die der Verletzungsrichter so lange als gegeben hinzunehmen hat, als der betreffende Patentanspruch nicht widerrufen oder für nichtig erklärt ist (vgl. Sen.Beschl. v. 12.11.2002 – X ZR 176/01, GRUR 2003, 550 – Richterablehnung).
  18. c) Des Weiteren ist es rechtsfehlerhaft, der die räumliche Anordnung des Fahrstandes betreffenden Angabe im Patentanspruch 1 allein deshalb keinen die weitere Prüfung der Verletzungsfrage ermöglichenden Bedeutungsinhalt zuzuerkennen, weil der gerichtliche Sachverständige – wie sich das Berufungsgericht dessen Ergänzungsgutachten und mündliche Anhörung zusammenfassend ausgedrückt hat – nicht angeben konnte, was das Patent unter dem mit dieser Angabe umschriebenen Merkmal versteht. Denn hierin kommt zum Ausdruck, dass das Berufungsgericht selbst keine Wertung der betreffenden Angabe des Patentanspruchs 1 vorgenommen hat. Auch das missachtet, dass die Würdigung, was sich aus in einem Patentanspruch benannten Merkmalen im Einzelnen und in ihrer Gesamtheit als unter Schutz gestellte technische Lehre ergibt, eine Rechtsfrage ist. Denn diese muss das angerufene Gericht mittels eines wertenden Aktes eigenverantwortlich beantworten (st. Rspr., z.B. Sen.Urt. v. 17.4.2007 – X ZR 1/05 Tz. 20, GRUR 2007, 59 – Pumpeinrichtung; BGHZ 171, 120 Tz. 18 f. – Kettenradanordnung, jeweils m.w.N.). Hierbei hat das Gericht sich zwar an der Sicht des angesprochenen Fachmanns zu orientieren (st. Rspr., z.B. BGHZ 172, 297 Tz. 38 – Zerfallszeitmessgerät; 171, 120 Tz. 18 – Kettenradanordnung, jeweils m.w.N.). Da eine eigenverantwortliche Bewertung des Patentanspruchs durch das Gericht, welche Lehre dieser dem angesprochenen Fachmann vermittelt, erforderlich ist, heißt aber auch das nicht, dass das, was ein gerichtlicher Sachverständiger schriftlich oder mündlich ausgeführt hat, eine gerichtliche Entscheidung schon deshalb tragen könnte, weil das Gericht an der Sachkunde des Sachverständigen insoweit keine Zweifel hat und dieser deshalb insoweit als sachkundig gelten kann (vgl. näher Sen.Urt. v. 12.2.2008 – X ZR 153/05 Tz. 32, GRUR 2008, 779 – Mehrgangnabe).
  19. 3. Das Berufungsgericht wird nach allem nunmehr die gebotene Auslegung des Patentanspruchs 1 vornehmen müssen und dabei in eigenständiger Würdigung des durch die Beschreibung und die Zeichnungen erläuterten Wortlauts auch den Sinngehalt der die räumliche Anordnung des Fahrstandes betreffenden Angabe bestimmen müssen. Wenn das Berufungsgericht eine Auslegung des Schutzanspruchs unterlassen hat, ist nämlich für eine Sachentscheidung des Senats aufgrund einer eigenen Auslegung des Anspruchs regelmäßig kein Raum (BGHZ 172, 298 Tz. 39 – Zerfallszeitmessgerät). Dies gilt im Streitfall schon deshalb, weil der Senat ohnehin eine abschließende Sachentscheidung nicht treffen könnte. Denn im Hinblick auf die angegriffene Ausführungsform 1 fehlen Feststellungen des Berufungsgerichts zu dem insoweit von der Beklagten geltend gemachten Weiterbenutzungsrecht, und im Hinblick auf die Ausführungsform 2 mangelt es an Feststellungen, die ein abschließendes Urteil über die Verwirklichung der beiden weiteren streitigen Merkmale des Patentanspruchs 1 erlauben.
  20. 4. Vorsorglich weist der Senat jedoch auf Folgendes hin:
  21. a) Die zur Erläuterung des Patentanspruchs 1 heranzuziehende allgemeine Beschreibung des Streitpatents befasst sich lediglich im Zusammenhang mit der Darstellung der aus der FR-A-264 27 73 vorbekannten Fräse überhaupt mit der Frage der räumlichen Anordnung eines Fahrstandes. Es wird bemängelt, dass von diesem Fahrstand, der als oberhalb der auf Höhe der hinteren Stützräder mit ihrer Achse angebrachten Fräswalze befindlich beschrieben ist (Sp. 1 Z. 34 f., 50 f.), der Arbeitsraum vor der Fräswalze wegen der bei dem bekannten Gerät gewählten, viel Platz benötigenden Vorrichtung zum Verschwenken des hinteren Stützrades nicht frei einsehbar sei (Sp. 1 Z. 53 ff.). Da die Lösung nach dem Streitpatent statt dessen ein horizontal liegendes Getriebe verlangt, das den vertikalen Platzbedarf für die Schwenkeinrichtung verringert (Kennzeichen des Patenanspruchs 1 und Sp. 2 Z. 23 ff.), könnte es eine sinnvolle und den Geboten der Rechtssicherheit genügende Deutung darstellen, Patentanspruch 1 solle mit seiner Angabe zur räumlichen Anordnung des Fahrstandes zum Ausdruck bringen, dass der aus der FR-A-264 27 73 bekannte Ort des Fahrstandes beibehalten werden könne und solle, und dass die Worte „im Bereich“ gewählt worden seien, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die hinteren Stützräder selbst in Fahrtrichtung gesehen einen gewissen Raum einnehmen und auch zwischen sich Platz beanspruchen.
  22. b) Wegen der insoweit erhobenen Gegenrüge der Beklagten wird sich das Berufungsgericht gegebenenfalls ferner in tatrichterlicher Würdigung des zu den angegriffenen Ausführungsformen Vorgebrachten damit befassen müssen, ob der Fahrstand tatsächlich, wie in dem angefochtenen Urteil eher beiläufig bemerkt, knapp vor den hinteren Stützrädern oder nach seiner ganzen Ausdehnung etwa in der Mitte zwischen den hinteren und den vorderen Stützrädern angeordnet ist.
  23. c) Sollte das Berufungsgericht wegen der bislang festgestellten oder der von der Beklagten behaupteten räumlichen Anordnung des Fahrstandes oder im Hinblick auf die anderen streitigen Merkmale eine wortsinngemäße Verwirklichung des Patentanspruchs 1 verneinen, sind schließlich die unter anderem in dem Urteil mit dem Schlagwort „Schneidmesser I“ (BGHZ 150, 149) wiedergegebenen Fragen zu behandeln, deren Beantwortung nach ständiger Rechtsprechung des Senats die Wertung erlaubt, dass die betreffende Ausführungsform trotz vorhandener Abweichung vom Sinngehalt des Patentanspruchs in dessen Schutzbereich fällt. Insoweit erscheint im Hinblick auf die Angabe zur räumlichen Anordnung des Fahrstandes erwägenswert, dass die Wortwahl „im Bereich“ dem nacharbeitenden Fachmann ohnehin eine Entscheidung über den Ort abverlangt. Das könnte die Möglichkeit in den Blick rücken, den Fahrstand auch außerhalb des vom Wortsinn her vorgesehenen Bereichs anzuordnen, jedenfalls dann, wenn die betreffende Ausführungsform dies nach ihrer nicht durch den Patentanspruch 1 vorgegebenen Bauart trotz des erfindungsgemäßen platzsparenden Getriebes im Hinblick auf die erstrebte, im Vergleich zu der aus der FR-A-264 27 73 bekannten Fräse bessere Sicht als sinnvoll erscheinen lässt.

Wird die Evolution privatisiert?

2002 erhielt die Firma Plant Bioscience ein Patent (EP1069819) auf ein Verfahren, mit dem bei der Zucht von Brokkoli der Anteil eines bestimmten Inhaltsstoffs in den Pflanzen erhöht werden kann. Obwohl dieses Verfahren konventionelle Züchtungsschritte enthält, hat das Europäische Patentamt (EPA)  die  Selektion als technisches und damit patentfähiges Verfahren betrachtet.  Bei dem Verfahren werden bestimmte Gene in der Pflanze ermittelt und gekennzeichnet und so die ausgewählten Brokkolipflanzen mit einer hohen Konzentration des gewünschten Stoffs in der Pflanzenzucht eingesetzt.

Homunculus
Schaffung des Homunculus in Goethes Faust II

Dass Früchte oder andere Pflanzen patentiert werden können, ist ja keine Neuheit. Jedoch geht es nunmehr um das Ergebnis gewöhnlicher Züchtungen. Das Patentamt hat in diesem Rahmen auch ein Problem mit dem Begriff der Natur oder dem Verständnis, was als natürlicher Vorgang anzusehen ist. Einerseits werden nach dem Gesetz Verfahren, die vollständig auf natürlichen Phänomenen beruhen, als im wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen angesehen. Andererseits werden Kreuzung und Selektion als Beispiele für natürliche Phänomene genannt. Die technische Beschwerdekammer des Patentamts sieht darin einen Widerspruch, weil das systematisches Kreuzen und Selektieren der traditionellen Pflanzenzüchtung in der Natur ohne den Eingriff des Menschen nicht vorkommen würde. Verständlicherweise ist es für einen Menschen schwer zu ermitteln, was in der Natur ohne den Menschen vorkommen würde und was nicht, denn der Mensch ist Bestandteil dieser Natur und der Mensch greift ständig — auch durch Züchtung und Selektion — in diese Natur ein. Insofern ist dieses Tun ein natürliches Phänomen. Die Beschwerdekammer möchte nun wissen, ob ein Verfahren zur Züchtung von Pflanzen, das auf Kreuzung und Selektion beruht, deshalb patentierbar ist, weil es mit einem technischen Schritt verbunden ist. Dieser technische Schritt liegt darin, dass man die Selektion mit technischen Mitteln unterstützt. Allerdings beschränkt sich das Patent nicht auf diese Methode, sondern greift darüberhinaus, denn nach den Ansprüchen 9 bis 11 sollen genießbare Brassica-Pflanzen, genießbare Teile einer Brokkoli-Pflanze und Samen einer Brokkoli-Pflanze exklusiv vom Patentanmelder genutzt werden dürfen, wenn sie mit diesem Verfahren hergestellt wurde.

Das erscheint auf den ersten Blick gleich, ist es aber tatsächlich nicht. Wenn das Patent beispielsweise in Deutschland eingetragen ist, in Frankreich hingegen nicht, so kann man in Frankreich das Verfahren nutzen und Brokkoli nach dem Verfahren anbauen und verkaufen. In Deutschland dürfte man das Verfahren nicht nutzen. Da jedoch auch das Ergebnis der Anwendung des Verfahrens geschützt ist, darf man in Deutschland auch keinen nach diesem Verfahren hergestellten Brokkoli etwa aus Frankreich kaufen. Das Patent entfaltet also nicht nur in den Staaten, in denen Brokkoli angebaut wird, sondern auch in den Staaten, in denen (importierter) Brokkoli konsumiert wird, seine Wirkung. Damit wird das Ergebnis eines evolutionären Vorgangs patentiert, denn nicht der Patentanmelder hat die Brokkolipflanze geschaffen, sondern die üblichen Vorgänge in der Natur (auch wenn diese beeinflusst wurden).

Montesanto hat vor kurzem vom EuGH zu lesen bekommen, dass ohne den besonderen Schutz die Vermarktung nicht verboten werden kann. Die betroffene genetisch veränderte Sojapflanze wird in Argentinien, wo für die Erfindung von Monsanto kein Patentschutz besteht, in großem Umfang angebaut und nach Europa importiert. Das sei zulässig, so der EuGH. Es wäre jedoch nicht mehr zulässig, wenn die Tomate oder die Brokkolifrüchte selbst geschützt werden (wie in den streitigen Patenten vorgesehen).

Ein ähnlicher Fall ist das Patent EP 1211926 B1: Das israelische Landwirtschaftsministerium meldete im Jahr 2000 ein Patent auf ein Zuchtverfahren von Tomaten mit geringem Wassergehalt und dessen Produkte an, das 2003 erteilt wurde.

Geschützt wird mit von dem Patent nicht nur das Verfahren, sondern auch die auf üblichem Wege gezüchteten Tomaten. Obwohl das Patent aus nichts anderem als dem  biologischen Verfahren zur Züchtung einer bestimmten Tomatensorte beinhaltet, wurde das Patent vom Europäischen Patentamt im Jahr 2003 erteilt.  Geschützt wurde mit dem Patent folgendes „Verfahren zum Züchten von Tomatenpflanzen, die Tomaten mit verringertem Fruchtwassergehalt erzeugen, umfassend die Schritte:

  • Kreuzen von mindestens einer Lycopersicum esculentum-Pflanze mit einem Lycopersicon spp., um Hybridsamen zu erzeugen;
  • Sammeln der ersten Generation von Hybridsamen;
  • Züchten von Pflanzen aus der ersten Generation von Hybridsamen;
  • Bestäuben der Pflanzen der jüngsten Hybridgeneration;
  • Sammeln der Samen, die von der jüngsten Hybridgeneration erzeugt wurden;
  • Züchten von Pflanzen aus Samen der jüngsten Hybridgeneration;
  • Gestatten, dass die Pflanzen über den Punkt des normalen Reifens hinaus an dem Stängel verbleiben;und Durchmustern auf verringerten Fruchtwassergehalt, wie durch die verlängerte Konservierung der reifen Frucht und Faltung der Fruchthaut angezeigt.“
Tomate am Strauch. Valter Jacinto. Some rights reserved. Licensed under Creative Commons
Tomate am Strauch. Valter Jacinto. Some rights reserved. Licensed under Creative Commons

Es handelt sich um da bekannte Verfahren: Kreuzen, Sammeln der Samen, Züchten, Bestäuben, Sammeln der Samen usw. Nach Anspruch 15 ist auch das Ergebnis geschätzt, nämlich eine Tomatenfrucht, gekennzeichnet durch eine Fähigkeit der natürlichen Dehydratisierung, während sie sich auf einer Tomatenpflanze befindet, wobei die natürliche Dehydratisierung als Faltung der Haut der Tomatenfrucht definiert ist, wenn man die Frucht nach einem normalen reifen Erntezustand auf der Pflanze bleiben lässt, wobei die natürliche Dehydratisierung im Allgemeinen nicht von einem mikrobiellen Verderben begleitet ist. Das spielt sich offenbar alles im Rahmen eines natürlichen Vorgangs ab. Dass man keine verfaulten Tomaten patentieren wollte, ist selbstverständlich.

Die wasserarmen Tomaten sind für die Ketchup-Herstellung besonders geeignet. Inhalt des Patents ist die Kreuzung verschiedener Tomatenarten und die Tatsache, die Tomate etwas länger als gewöhnlich an der Staude zu lassen. Gegen die Patentierung legte das niederländische Unternehmen Unilever im Jahr 2004 Einspruch ein und verlangte aus denselben Gründen wie im Brokkoli-Verfahren den Widerruf des Patents. Auch dieses Verfahren befindet sich vor der Beschwerdeinstanz des EPA.

§ 9 des deutschen Patentgesetzes
Das Patent hat die Wirkung, dass allein der Patentinhaber befugt ist, die patentierte Erfindung im Rahmen des geltenden Rechts zu benutzen. Jedem Dritten ist es verboten, ohne seine Zustimmung

  1. ein Erzeugnis, das Gegenstand des Patents ist, herzustellen, anzubieten, in Verkehr zu bringen oder zu gebrauchen oder zu den genannten Zwecken entweder einzuführen oder zu besitzen;
  2. ein Verfahren, das Gegenstand des Patents ist, anzuwenden oder, wenn der Dritte weiß oder es auf Grund der Umstände offensichtlich ist, daß die Anwendung des Verfahrens ohne Zustimmung des Patentinhabers verboten ist, zur Anwendung im Geltungsbereich dieses Gesetzes anzubieten;
  3. das durch ein Verfahren, das Gegenstand des Patents ist, unmittelbar hergestellte Erzeugnis anzubieten, in Verkehr zu bringen oder zu gebrauchen oder zu den genannten Zwecken entweder einzuführen oder zu besitzen.

Nachdem es jedem gewerblich Tätigen verboten ist, die geschütze Tomate ohne Zustimmung des Patentinhabers herzustellen, anzubieten, in Verkehr zu bringen oder zu gebrauchen, sind die Befürchtungen mancher nicht unberechtigt. Laut Spiegel-Online fürchtet Greenpeace-Patentexperte Christoph Then, dass wenige Konzerne sich künftig die Rechte an den wichtigsten Lebensmitteln sichern und damit die ganze Nahrungsmittelproduktion kontrollieren könnten: „Nicht nur Verbraucher werden zu Sklaven der Großkonzerne, sondern auch Landwirte, weil sie auf das Saatgut einiger weniger angewiesen sind.“

Im laufenden Verfahren findet am 20. und 21. Juli 2010 in München eine mündliche Verhandlung zu der Brokoli-Frage statt. Die Große Beschwerdekammer befasst sich damit, ob die marker-gestützte Selektion ein biologisches Zuchtverfahren oder ein technisches Verfahren und damit patentfähig ist. Im Anschluss an die Verhandlung ist das Urteil nicht zu erwarten — es dürfte aber wohl noch in diesem Jahr veröffentlicht werden.

Maßgeblich für die Patentierungspraxis im Bereich Biotechnologie ist die 1998 verabschiedete EU-Richtlinie zum Schutz biotechnologischer Erfindungen, die u.a. die Patentfähigkeit von Pflanzen und Tieren grundsätzlich bejaht. Der Verwaltungsrat des Europäischen Patentamts (EPA)  hat die Richtlinie in das Europäische Patentübereinkommen übernommen. Die Biopatentrichtlinie kann jedoch nicht alle Praxisfälle regulieren und definiert auch die Grenzen zwischen klassischer Züchtung, Kreuzung, Selektion und modernen Züchtungsmethoden mit biotechnologischen Mitteln nicht eindeutig.

Das EPA entschuldigte sich schon im Voraus, wenn es nunmehr Vorgänge in der Natur oder deren Ergebnisse für patentenfähig erklärt werden sollten. Die Frage nach der Patentierbarkeit von Pflanzen und Tieren stünde nicht zur Diskussion:

„Die Rolle des Europäischen Patentamts beschränkt sich auf die Überprüfung, ob eine Patentanmeldung eine neuartige und wirtschaftlich nutzbare technische Entwicklung ist, die auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht. Eine soziale, ökonomische oder ökologische Folgenabschätzung liegt nicht in seiner Kompetenz und Möglichkeit. Dies ist eine Aufgabe des Gesetzgebers bzw. der zuständigen europäischen und nationalen Regulierungsbehörden.“

Auf den Gesetzgeber zu vertrauen, scheint aber eine hoffnungslose Angelegenheit, so lange sich der Irrglaube hält, geistiges Eigentum fördere die Innovation. Das Patent beruht auf der Biopatentrichtlinie. Diese hatte zum Ziel, eine Harmonisierung der unterschiedlichen Patentrechtsordnungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Bereich der Biopatente zu erreichen. Ein wirksamer und harmonisierter Schutz – so Erwägungsgrund 3 der Richtlinie – sei wesentliche Voraussetzung dafür, dass Investitionen auf dem Gebiet der Biotechnologie fortgeführt und gefördert würden. Irgendwelche Aussagen, ob und in welchem Umfang die Umsetzung der Richtlinie vorteilhafte Wirkungen hat, lässt sich bislang nicht sagen. Die nachteiligen liegen auf der Hand: Einige Unternehmen können in einen weiteren Bereich ohne den lästigen Wettbewerb ihre Interessen verfolgen.

Vgl. hierzu:

  • Interview mit der Biologin Ruth Tippe in der Süddeutschen Zeitung;
  • der Brokkoli-Fall bei No Patents on Seeds;
  • Tomaten mit niedrigem Wassergehalt und Produkte dieses Verfahrens bei No Patents on Seeds;
  • Spiegel-Online vom 20. 7. 2010
  • Süddeutsche Zeitung vom 20. 7. 2010
  • Verhandlungsbericht vom 21. 7. 2010 bei Heise Online
  • Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses des deutschen Bundestags vom  17. 06. 2009, in dem vor allem steht, dass diese Entwicklung nicht beabsichtigt gewesen sei:
    Sowohl die für das Europäische Patentamt geltenden Regelungen als auch das deutsche Patentgesetz sehen vor, für „im Wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen und Tieren“ Patente nicht zu erteilen. Der Deutsche Bundestag hat mit der Umsetzung der Biopatent-Richtlinie die Absicht verbunden, den Gegensatz des nicht patentierbaren biologischen Verfahrens zur patentierbaren technischen Erfindung ausreichend sicher zu beschreiben. Der Deutsche Bundestag erwartet daher, dass die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer zu einer Interpretation führt, die für eine klare Abgrenzung biotechnologischer Erfindungen von herkömmlichen landwirtschaftlichen Tätigkeiten wie Züchtung und Kreuzung sorgt und die Patentierung herkömmlicher landwirtschaftlicher Tätigkeiten wie Züchtung und Kreuzung ausschließt.

Metall auf Metall: kleinste Tonfetzen geschützt

Eine etwa zwei Sekunden lange Rhythmussequenz aus dem Titel „Metall auf Metall“ der Gruppe Kraftwerk wurde elektronisch kopiert („gesampelt“) und einem Titel der Interpretin Sabrina Setlur („Nur mir“) unterlegt. Es wurde — wie das OLG Hamburg es ausdrückte — die Keimzelle von „Metall auf Metall“ — ein bestimmtes Rhythmusgefüge mehrerer Schlaginstrumente von zwei Takten Dauer — übernommen. Das war rechtswidrig, so der BGH.

In erster Linie geht es in dem Urteil um Leistungsschutzrechte der Tonträgerhersteller. Tonträgerhersteller ist jemand, der die wirtschaftliche, organisatorische und technische Leistung erbringt, das Tonmaterial erstmalig auf einem Tonträger aufzuzeichnen. Diese sind nach der Wertung des Gesetzes besonders schutzwürdig (im Gegensatz zu den anderen anderen Unternehmern, die die organisatorische Verantwortung für die Herstellung von Nicht-Tonträgern getragen haben).

Schildbürger bei der Arbeit
Schildbürger transportieren Baumstämme

Schutzrechte bedeuten, dass man einen Rechtsinhaber um Erlaubnis fragen muss, bevor man rechtmäßig eine bestimmte Handlung vornehmen darf.  Erfasst ist praktisch jede Microsekunde, denn, so der BGH: Wenn nicht die kleinsten Partikel der Aufnahme erfasst werden würden, liefe der Schutz des Tonträgerherstellers weitgehend leer. Qualität oder Quantität der von einem Tonträger entnommenen Töne sei kein taugliches Kriterium für die Beurteilung, ob die Übernahme von Ausschnitten eines Tonträgers in die Rechte des Tonträgerherstellers eingreift. Es käme nicht darauf an, ob es sich bei der Tonfolge um ein schöpferisches Werk oder eine künstlerische Darbietung handelt und ob sie dementsprechend Urheberrechtsschutz oder Leistungsschutz genießt. Ein Leistungsschutzrecht des Tonträgerherstellers besteht beispielsweise auch an Tonträgern, auf denen Tierstimmen aufgenommen sind. Wie bei dem Leistungsschutzrecht an Fotografien, bei dem das Betätigen des Auslösers zum Schutzrecht führt, genügt es für ein Leistungsschutzrecht des Tonträgerherstellers, dass der Aufnahmeschalter gedrückt wurde.

Nachdem so der Maßstab für die  Beurteilung (Qualität und Quantität sind vollkommen belanglos) festgelegt wurde, stellt sich für den BGH die Frage, ob irgend etwas die Nutzung selbst kleinster Partikel einer Aufnahme rechtfertigen könnte.

Es käme jedenfalls nicht darauf an, ob derjenige, der in die Rechte des Tonträgerherstellers eingreift, dadurch einen wirtschaftlichen Vorteil erzielt oder eigenen Aufwand erspart oder ob der Tonträgerhersteller durch diesen Eingriff einen messbaren und nachweisbaren wirtschaftlichen Nachteil erleidet. Dies könnte den unbefugten Eingriff in die unternehmerische Leistung des Herstellers (d. i. Aufnahmeschalter betätigen) nicht rechtfertigen.

Auch wenn Samples in der modernen Musikproduktion wesentliche Bausteine des musikalischen Schaffens seien, gebe dies den Musikschaffenden keinen Freibrief für die ungenehmigte Entnahme von Tonfolgen aus fremden Tonträgern. Es sei nicht zu befürchten, dass die musikalische Entwicklung in vielen Musikbereichen schlagartig zum Erliegen käme. Wer auf einem fremden Tonträger aufgezeichnete Töne oder Klänge für eigene Zwecke verwenden möchte, sei — soweit diese keinen Urheberrechtsschutz genießen — nicht daran gehindert, sie selbst einzuspielen.
Ownership
Sei er hierzu nicht willens oder imstande, könne er den Rechteinhaber um eine entsprechende Erlaubnis ersuchen. Dadurch ließe sich eine angemessene Beteiligung an dem unternehmerischen Aufwand des Rechteinhabers sicherstellen, ohne dass die Freiheit der musikalischen Entwicklung behindert werde. Die Möglichkeit der freien Benutzung scheint im Ergebnis auf die Nutzung von sogenannten O-Tönen, also einmalige und nicht reproduzierbare, aufgezeichnete akustische Ereignisse, beschränkt zu sein, auch wenn der BGH das nicht ausdrücklich bestätigt. Wieso allerdings die Tonträgerhgersteller „eine angemessene Beteiligung an ihrem unternehmerischen Aufwand“ bekommen sollen, während der Wettbewerb gerade darauf beruht, dass fremde Leistungen übernommen werden können, das bleibt im Dunkeln.

Schildbuerger Rathaus
Die Schildbürger tragen das Licht ins Rathaus

Welchen Zweck das Schutzrecht hat, wenn jemand gezwungen wird, die gewünschte Abfolge von Tönen oder Geräuschen selbst einzuspielen (zu lassen)? Die erzwungene doppelte Arbeit scheint wirtschaftlich zumindest ähnlich sinnvoll zu sein, wie manch andere Tätigkeiten: Die Schildbürger fingen den Sonnenschein in Eimer und Kessel, Kannen und Töpfe. Andre hielten Kartoffelsäcke ins Sonnenlicht, banden dann die Säcke schnell zu und schleppten sie ins Rathaus. Dort banden sie die Säcke auf, schütteten das Licht ins Dunkel und rannten wieder auf den Markt hinaus, wo sie die leeren Säcke wieder vollschaufelten. So machten sie es bis zum Sonnenuntergang. Aber im Rathaus war es noch dunkel wie am Tag zuvor.

Mehr produziert wird bei Umsetzung der Rechtsprechung des BGH auch nicht, allenfalls Geld umverteilt und die Produktion neuer kultureller Produkte überflüssig verteuert oder verhindert. Aber immerhin bleiben uns die Werke der unwilligen oder unfähigen Künstler erspart; jedenfalls dann, wenn sie kein Geld haben, eine angemessene Beteiligung an dem unternehmerischen Aufwand des Rechteinhabers sicherzustellen (oder wenn die Suche nach dem oder den Rechteinhabern ergebnislos verläuft).


Ergänzung [5. Feb. 2011]

Die Problematik wird  in diesem Beitrag von Philipp Otto (vor allem den dortigen Videos) dargestellt. Die Nutzung der Beispiele in den Videos ist übrigens grundsätzlich auch eine rechtswidrige Verbreitung. Ob sie ausnahmsweise zulässig ist? — wir hoffen, die Spezialisten wissen, was sie tun.


BGH, Urt. v. 20. November 2008 – I ZR 112/06

Leitsätze

  1. Ein Eingriff in das durch§ 85 Abs. 1 Satz 1 UrhG geschützte ausschließliche Recht des Tonträgerherstellers ist bereits dann gegeben, wenn einem Tonträger kleinste Tonfetzen entnommen werden.
  2. Die Regelung des § 24 Abs. 1 UrhG ist im Falle der Benutzung eines fremden Tonträgers grundsätzlich entsprechend anwendbar. Eine entsprechende Anwendung dieser Bestimmung kommt allerdings nicht in Betracht, wenn es möglich ist, die auf dem Tonträger aufgezeichnete Tonfolge selbst einzuspielen oder es sich bei der erkennbar dem benutzten Tonträger entnommenen und dem neuen Werk zugrunde gelegten Tonfolge um eine Melodie handelt.

Tatbestand

  1. Die Kläger sind Mitglieder der Musikgruppe „Kraftwerk“. Diese veröffentlichte im Jahre 1977 einen Tonträger, auf dem sich unter anderem das Stück „Metall auf Metall“ befindet. Die Beklagten zu 2 und 3 sind die Komponisten des Titels „Nur mir“, den die Beklagte zu 1 mit der Sängerin Sabrina Setlur in zwei Versionen eingespielt hat. Diese Musikstücke befinden sich auf zwei im Jahre 1997 erschienenen Tonträgern.
  2. Die Kläger behaupten, die Beklagten hätten eine etwa zwei Sekunden lange Rhythmussequenz aus dem Titel „Metall auf Metall“ elektronisch kopiert („gesampelt“) und dem Titel „Nur mir“ in fortlaufender Wiederholung unterlegt. Sie meinen, die Beklagten hätten damit ihre Rechte als Tonträgerhersteller und ausübende Künstler sowie das Urheberrecht des Klägers zu 1 verletzt, der den Titel komponiert und sein Urheberrecht in den von ihnen gemeinsam betriebenen Musikverlag eingebracht habe.
  3. Die Kläger haben die Beklagten auf Unterlassung, Feststellung ihrer Schadensersatzpflicht, Auskunftserteilung und Herausgabe der Tonträger zum Zwecke der Vernichtung in Anspruch genommen.
  4. Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Das Berufungsgericht hat die Berufung zurückgewiesen (OLG Hamburg GRUR-RR 2007, 3 = ZUM 2006, 758). Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgen die Beklagten ihren Klageabweisungsantrag weiter. Die Kläger beantragen, das Rechtsmittel zurückzuweisen.

    Entscheidungsgründe

  5. I.
    Das Berufungsgericht hat angenommen, die Beklagten seien den Klägern gemäß § 97 Abs. 1 UrhG (a.F.) zur Unterlassung, zum Schadensersatz und zur Auskunftserteilung sowie gemäß § 98 Abs. 1 UrhG (a.F.) zur Herausgabe der Tonträger zum Zwecke der Vernichtung verpflichtet, weil sie den Titel „Nur mir“ durchgängig mit dem Rhythmusgefüge zweier Takte aus dem Titel „Metall auf Metall“ unterlegt und dadurch die Tonträgerherstellerrechte der Kläger aus § 85 Abs. 1 UrhG verletzt hätten. Hierzu hat es ausgeführt:
  6. Die Kläger seien Tonträgerhersteller der Aufnahme „Metall auf Metall“, weil sie die maßgebliche organisatorische Verantwortung für deren Herstellung getragen hätten. Das den beiden Aufnahmen des Titels „Nur mir“ durchgängig unterlegte Schlagzeugsample sei nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme den Takten 19 und 20 der Aufnahme „Metall auf Metall“ entnommen worden. Grundsätzlich greife auch die ungenehmigte ausschnittweise Vervielfältigung und Verbreitung eines Tonträgers in die Rechte des Tonträgerherstellers ein. Es könne dahinstehen, ob eine Verletzung der Tonträgerherstellerrechte zu verneinen sei, wenn lediglich kleinste Tonpartikel einer fremden Tonaufnahme verwendet würden. Im Streitfall sei die „Keimzelle“ der Tonaufnahme „Metall auf Metall“ — ein bestimmtes Rhythmusgefüge mehrerer Schlaginstrumente, das fortlaufend wiederholt werde — im Wege des Sampling übernommen worden. Dieses Rhythmusgefüge sei in seiner charakteristischen Ausprägung noch deutlich in dem Lied „Nur mir“ wahrnehmbar. Die Beklagten hätten sich dadurch, dass sie gerade dieses Element komplett übernommen und dem Stück „Nur mir“ ebenfalls fortlaufend unterlegt hätten, im Ergebnis die ganze Tonaufnahme, die aus der ständigen Wiederholung dieses prägenden Teils bestehe, angeeignet und eigenen Aufwand erspart.
  7. II.
    Die gegen diese Beurteilung gerichteten Angriffe der Revision haben Erfolg. Sie führen zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
  8. 1.
    Gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, die Kläger seien Tonträgerhersteller der Aufnahme „Metall auf Metall“, weil sie die maßgebliche organisatorische Verantwortung für deren Herstellung getragen hätten, erhebt die Revision keine Einwände. Rechtsfehler sind insoweit auch nicht ersichtlich. Tonträgerhersteller und Inhaber des Leistungsschutzrechts aus § 85 UrhG ist, wer die wirtschaftliche, organisatorische und technische Leistung erbringt, das Tonmaterial erstmalig auf einem Tonträger aufzuzeichnen (vgl. Schulze in Dreier/Schulze, UrhG, 2. Aufl., § 85 UrhG Rdn. 4; Schricker/Vogel, Urheberrecht, 3. Aufl., § 85 UrhG Rdn. 31).
  9. 2.
    Das Berufungsgericht hat im Ergebnis mit Recht angenommen, dass die Beklagten in das Tonträgerherstellerrecht der Kläger eingegriffen haben, indem sie dem von den Klägern hergestellten Tonträger im Wege des Sampling zwei Takte einer Rhythmussequenz des Titels „Metall auf Metall“ entnommen und diese dem Stück „Nur mir“ unterlegt haben. Durch die Verwendung der fremden Tonaufnahme bei der Herstellung des eigenen Tonträgers und das anschließende Inverkehrbringen dieses Tonträgers haben die Beklagten in das ausschließliche Recht der Kläger eingegriffen, den von ihnen hergestellten Tonträger zu vervielfältigen und zu verbreiten (§ 85 Abs. 1 Satz 1 UrhG i.V. mit §§ 16, 17 UrhG).
  10. a)
    Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass grundsätzlich bereits die ausschnittweise ungenehmigte Vervielfältigung oder Verbreitung der auf einem Tonträger aufgezeichneten Tonaufnahmen in die Rechte des Tonträgerherstellers eingreift (ebenso Schulze in Dreier/Schulze aaO § 85 UrhG Rdn. 25; Schricker/Vogel aaO § 85 UrhG Rdn. 42; Wandtke/Bullinger/Schaefer, Urheberrecht, 3. Aufl., § 85 UrhG Rdn. 25, jeweils m.w.N.). Die vereinzelt vertretene Gegenauffassung, die Rechte des Tonträgerherstellers seien nur bei einer ungenehmigten Vervielfältigung oder Verbreitung des gesamten Tonträgers verletzt (so Hoeren, GRUR 1989, 580 f.; anders aber ders., Festschrift Hertin, 2000, S. 113, 128), ist mit den Bestimmungen der Art. 2 und 1 des Genfer Tonträger-Abkommens unvereinbar, wonach die Tonträgerhersteller bereits vor einer Vervielfältigung und Verbreitung wesentlicher Teile der in dem Tonträger festgelegten Töne zu schützen sind (Häuser, Sound und Sampling, 2002, S. 109, 114 f.; Wegener, Sound Sampling, 2007, S. 238; Ullmann in jurisPR-WettbR 10/2006, Anm. 3). Wäre nur die ungenehmigte Vervielfältigung und Verbreitung des gesamten Tonträgers untersagt, liefe, wie die Revisionserwiderung zutreffend bemerkt, der Schutz des Tonträgerherstellers — gerade im Hinblick auf moderne digitale Aufnahme-, Vervielfältigungs- und Wiedergabetechniken — weitgehend leer.
  11. b)
    Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts kann die Rechtsfrage, ob in die Rechte des Tonträgerherstellers auch dann eingegriffen wird, wenn einem Tonträger lediglich kleinste Tonpartikel entnommen werden, im Streitfall nicht offenbleiben. Dem von den Klägern hergestellten Tonträger sind nach den Feststellungen des Berufungsgerichts lediglich zwei Takte einer Rhythmussequenz des Titels „Metall auf Metall“ und damit nur kleinste Tonpartikel entnommen worden. Soweit das Berufungsgericht weiter ausgeführt hat, „im Ergebnis“ sei die ganze Tonaufnahme übernommen worden, handelt es sich nicht um eine gegenteilige Tatsachenfeststellung, sondern um die rechtliche Beurteilung, dass die Entnahme dieser Tonpartikel unter den im Streitfall gegebenen Umständen nicht anders als eine Übernahme der Gesamtaufnahme zu bewerten sei. Die vom Berufungsgericht für diese Bewertung gegebene Begründung vermag rechtlich zwar nicht zu überzeugen. Die Beurteilung des Berufungsgerichts stellt sich jedoch im Ergebnis als richtig dar. Ein Eingriff in das durch § 85 Abs. 1 Satz 1 UrhG geschützte ausschließliche Recht des Tonträgerherstellers ist bereits dann gegeben, wenn einem Tonträger kleinste Tonfetzen entnommen werden (Schulze in Dreier/Schulze aaO § 85 UrhG Rdn. 25; Fromm/Nordemann/Hertin, Urheberrecht, 9. Aufl., § 85 UrhG Rdn. 8; Wandtke/Bullinger/Schaefer aaO § 85 UrhG Rdn. 25; Hertin, GRUR 1989, 578; Schorn, GRUR 1989, 579, 580; Hertin, GRUR 1991, 722, 730 f.; Spieß, ZUM 1991, 524, 534; Schulze, ZUM 1994, 15, 20; Müller, ZUM 1999, 555, 558; Weßling, Der zivilrechtliche Schutz gegen digitales Sound-Sampling, 1995, S. 159 ff.; Dierkes, Die Verletzung der Leistungsschutzrechte des Tonträgerherstellers, 2000, S. 23 ff.; a.A. Bortloff, ZUM 1993, 476, 478; ders., Der Tonträgerpiraterieschutz im Immaterialgüterrecht, 1995, S. 110 f.; Münker, Urheberrechtliche Zustimmungserfordernisse beim Digital Sampling, 1995, S. 252 f., 257 f.; Häuser aaO S. 113; Wegener aaO S. 238 ff.; Hoeren, Festschrift Hertin, 2000, S. 113, 128 ff.; vgl. auch Schricker/Vogel aaO § 85 UrhG Rdn. 43; vgl. weiter United States Court of Appeals for the Sixth Circuit — Bridgeport Music, Inc., et al. v. Dimension Films, et al., 383 F. 3d 390 [6th Cir. 2004] zum Recht der Vereinigten Staaten).
  12. aa)
    Das Berufungsgericht hat seine Auffassung, die Rechte der Kläger als Tonträgerhersteller seien verletzt, weil im Ergebnis die ganze Tonaufnahme übernommen worden sei, im Wesentlichen wie folgt begründet: Bei der den Takten 19 und 20 des Titels „Metall auf Metall“ entnommenen Rhythmussequenz handele es sich um den prägenden Teil (die „Keimzelle“) dieser Tonaufnahme; diese bestehe aus dessen ständiger Wiederholung. In dem Titel „Nur mir“ sei dieser Teil der Tonaufnahme noch deutlich in seiner charakteristischen Ausprägung wahrnehmbar; er sei auch diesem Stück fortlaufend unterlegt. Das Berufungsgericht hat es zur Beurteilung der Frage, ob die Übernahme von Ausschnitten eines Tonträgers in das Recht des Tonträgerherstellers eingreift, demnach als maßgebend erachtet, ob qualitativ oder quantitativ wesentliche Teile der auf dem Tonträger fixierten Tonfolge übernommen werden (ebenso Hoeren, Festschrift Hertin, 2000, S. 113, 129; ähnlich Schricker/Vogel aaO § 85 UrhG Rdn. 43; vgl. auch Knies, Die Rechte der Tonträgerhersteller in internationaler und rechtsvergleichender Sicht, 1999, S. 193; Wegener aaO S. 240 ff.). Dem kann nicht zugestimmt werden.
  13. Die Qualität oder die Quantität der von einem Tonträger entnommenen Töne kann, wie die Revision mit Recht rügt, kein taugliches Kriterium für die Beurteilung sein, ob die Übernahme von Ausschnitten eines Tonträgers in die Rechte des Tonträgerherstellers eingreift. Die Leistungsschutzrechte des Tonträgerherstellers bestehen unabhängig von der Qualität oder der Quantität der auf dem Tonträger festgelegten Töne und erstrecken sich auf Tonträger mit Tonaufnahmen jeglicher Art (Schulze in Dreier/Schulze aaO § 85 UrhG Rdn. 15; Hertin, GRUR 1989, 578; ders., GRUR 1991, 722, 730; Häuser aaO S. 109 f.). Es kommt nicht darauf an, ob es sich bei der Tonfolge um ein schöpferisches Werk oder eine künstlerische Darbietung handelt und ob sie dementsprechend Urheberrechtsschutz oder Leistungsschutz genießt. Ein Leistungsschutzrecht des Tonträgerherstellers besteht beispielsweise auch an Tonträgern, auf denen Tierstimmen aufgenommen sind. Desgleichen ist die Länge der Tonaufnahme ohne Bedeutung. Das Leistungsschutzrecht des Tonträgerherstellers umfasst auch Tonträger, die nur wenige Töne enthalten. Nicht nur der Tonträger mit der Aufnahme einer mehrsätzigen Sinfonie, sondern auch der Tonträger mit der Aufnahme eines kurzen Vogelgezwitschers ist geschützt (Schulze, ZUM 1994, 15, 20). Darüber hinaus würde ein Abstellen auf qualitative oder quantitative Kriterien — wie beispielsweise darauf, ob ein substantieller Teil des Tonträgers vervielfältigt wird, in dem sich seine wettbewerbliche Eigenart widerspiegelt (Schricker/Vogel aaO § 85 UrhG Rdn. 43), oder ob der entnommene Teil im übernehmenden Stück erkennbar bleibt (Ullmann in jurisPR-WettbR 10/2006, Anm. 3; Wegener aaO S. 240 ff.) — zu Abgrenzungsschwierigkeiten und damit zu Rechtsunsicherheit führen (Dierkes aaO S. 26).
  14. bb)
    Die Beurteilung des Berufungsgerichts ist jedoch im Ergebnis zutreffend. Selbst die Entnahme kleinster Tonpartikel stellt einen Eingriff in die durch § 85 Abs. 1 Satz 1 UrhG geschützte Leistung des Tonträgerherstellers dar. Schutzgegenstand des § 85 Abs. 1 Satz 1 UrhG ist nicht der Tonträger oder die Tonfolge selbst, sondern die zur Festlegung der Tonfolge auf dem Tonträger erforderliche wirtschaftliche, organisatorische und technische Leistung des Tonträgerherstellers (vgl. Begründung des Regierungsentwurfs, BT-Drs. IV/270 in UFITA 45 [1965], 240, 314; Schulze in Dreier/Schulze aaO § 85 UrhG Rdn. 15; Schricker/Vogel aaO § 85 UrhG Rdn. 18; Wandtke/Bullinger/Schaefer aaO § 85 UrhG Rdn. 2). Da der Tonträgerhersteller diese unternehmerische Leistung für den gesamten Tonträger erbringt, gibt es keinen Teil des Tonträgers, auf den nicht ein Teil dieses Aufwands entfiele und der daher nicht geschützt wäre (vgl. zum Leistungsschutz des Filmherstellers nach §§ 94, 95 UrhG BGHZ 175, 135 Tz. 18 f. — TV-Total). Die für die Aufnahme erforderlichen Mittel müssen für den kleinsten Teil der Aufnahme genauso bereitgestellt werden wie für die gesamte Aufnahme (Schulze in Dreier/Schulze aaO § 85 Rdn. 25); selbst der kleinste Teil einer Tonfolge verdankt seine Festlegung auf dem Tonträger der unternehmerischen Leistung des Herstellers (Spieß, ZUM 1991, 524, 534; Weßling aaO S. 161; Bindhardt, Der Schutz von in der Popularmusik verwendeten elektronisch erzeugten Einzelsounds nach dem Urheberrechtsgesetz und dem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, 1998, S. 129 f.). In diese unternehmerische Leistung greift auch derjenige ein, der einem fremden Tonträger kleinste Tonfetzen entnimmt.
  15. Es kommt nicht darauf an, ob derjenige, der in die Rechte des Tonträgerherstellers eingreift, dadurch einen wirtschaftlichen Vorteil erzielt oder eigenen Aufwand erspart oder ob der Tonträgerhersteller durch diesen Eingriff einen messbaren und nachweisbaren wirtschaftlichen Nachteil erleidet (Hertin, GRUR 1991, 722, 730 f.; a.A. OLG Hamburg GRUR Int. 1992, 390, 391 und NJW-RR 1992, 746, 748; Münker aaO S. 252 f.; Bindhardt aaO S. 131 f.; Häuser aaO S. 111). Selbst wenn, wie die Revision vorbringt, die Übernahme kurzer Sequenzen, die nicht als Samples aus anderen Tonträgern erkennbar sind, regelmäßig keine Auswirkungen auf die Verwertung des Original-Tonträgers hätte (Münker aaO S. 253; Bindhardt aaO S. 133; Häuser aaO S. 111 ff.; Wegener aaO S. 239 f.) und die Übernahme längerer Sequenzen, die als Samples aus anderen Musikproduktionen erkennbar blieben, sogar häufig eine Nachfrage nach dem Original-Tonträger auslöste (Hoeren, Festschrift Hertin, 2000, S. 113, 129), könnte dies den unbefugten Eingriff in die unternehmerische Leistung des Herstellers nicht rechtfertigen. Es ist im Streitfall daher, wie das Berufungsgericht mit Recht angenommen hat, ohne Bedeutung, ob sich die Übernahme eines Teils der Aufnahme „Metall auf Metall“ in die Aufnahme „Nur mir“ nachteilig auf den Absatz des von den Klägern hergestellten Tonträgers ausgewirkt hat oder ob dies, wie die Revision geltend macht, schon deshalb ausgeschlossen erscheint, weil sich die beiden Aufnahmen an völlig unterschiedliche Hörerkreise wenden. Im Übrigen wird dem Hersteller des Tonträgers durch die ungenehmigte Übernahme selbst kleinster Teile einer Tonaufnahme regelmäßig eine mit seiner unternehmerischen Leistung geschaffene Verwertungsmöglichkeit entzogen (a.A. OLG Hamburg GRUR Int. 1992, 390, 391 und NJW-RR 1992, 746, 748). Auch kleinste Teile von Tonaufnahmen haben — wie der Handel mit Sound-Samples zeigt — einen wirtschaftlichen Wert (vgl. Münker aaO S. 253; Dierkes aaO S. 25; zum Samplingvertrag vgl. Zimmermann, in Moser/Scheuermann, Handbuch der Musikwirtschaft, 6. Aufl., S. 1180 ff.).
  16. cc)
    Die Revision wendet ohne Erfolg ein, der Tonträgerhersteller erhielte, wenn er gegen die Übernahme kürzester Teilstücke einer Tonfolge vorgehen könnte, weitergehende Schutzrechte als der Urheber der musikalischen Werke (so aber Hoeren, GRUR 1989, 581; Bortloff, ZUM 1999, 476, 478; ders., Der Tonträgerpiraterieschutz im Immaterialgüterrecht, 1995, S. 110 f.; Münker aaO S. 252). Entgegen der Ansicht der Revision liegt kein Wertungswiderspruch darin, dass selbst kleinsten Tonpartikeln eines Tonträgers Leistungsschutz zukommt, während Teile eines Musikwerkes nur dann Urheberrechtsschutz genießen, wenn sie für sich genommen den urheberrechtlichen Schutzvoraussetzungen genügen (vgl. zum Schutz von Werkteilen BGHZ 9, 262, 266 ff. — Lied der Wildbahn I; BGHZ 28, 234, 237 — Verkehrskinderlied; BGH, Urt. v. 23.6.1961 — I ZR 105/59, GRUR 1961, 631, 633 — Fernsprechbuch; zum Werkteilschutz bei Musikwerken Schricker/Loewenheim aaO § 2 UrhG Rdn. 122 m.w.N.). Der von der Revision angestellte Vergleich ist nicht stichhaltig, da der Leistungsschutz für Tonträger und der Urheberrechtsschutz für Musikwerke unterschiedliche Schutzgüter haben (Wandtke/Bullinger/Schaefer aaO § 85 UrhG Rdn. 25; Hertin, GRUR 1989, 578; Müller, ZUM 1999, 555, 558; Weßling aaO S. 161; Dierkes aaO S. 25 f.; von Lewinski in Schricker, Urheberrecht auf dem Weg zur Informationsgesellschaft, S. 230 f.; vgl. BGHZ 175, 135 Tz. 20 ff. — TV-Total, zum Verhältnis zwischen dem Leistungsschutz für Filmträger nach §§ 94, 95 UrhG und dem Urheberechtsschutz für Filmwerke nach § 2 Abs. 1 Nr. 6 UrhG). Während § 85 UrhG den Schutz der wirtschaftlichen, organisatorischen und technischen Leistung des Tonträgerherstellers zum Gegenstand hat, schützt § 2 Abs. 1 Nr. 2 UrhG die persönliche geistige Schöpfung des Komponisten (vgl. § 2 Abs. 2 UrhG). Wegen ihres gänzlich unterschiedlichen Schutzgegenstands sind das Leistungsschutzrecht am Tonträger und das Urheberrecht am Musikwerk einem Vergleich des Schutzumfangs nicht ohne weiteres zugänglich.
  17. dd)
    Entgegen der Ansicht der Revision ist es dem Tonträgerhersteller aus Rechtsgründen nicht zuzumuten, im Interesse einer freien musikalischen Entwicklung generell auf einen Leistungsschutz für kleinste Teile von Tonaufnahmen zu verzichten (so aber Bindhardt aaO S. 132; vgl. auch Schricker/Vogel aaO § 85 UrhG Rdn. 43). Es mag sein, dass — wie die Revision geltend macht — Samples in der modernen Musikproduktion wesentliche Bausteine des musikalischen Schaffens geworden sind. Das gibt den Musikschaffenden aber keinen Freibrief für die ungenehmigte Entnahme von Tonfolgen aus fremden Tonträgern. Anders als die Revision meint, ist nicht zu befürchten, dass die musikalische Entwicklung in vielen Musikbereichen schlagartig zum Erliegen kommt, wenn den Berechtigten insoweit Leistungsschutz gewährt wird. Wer auf einem fremden Tonträger aufgezeichnete Töne oder Klänge für eigene Zwecke verwenden möchte, ist — soweit diese keinen Urheberrechtsschutz genießen (vgl. dazu Schulze in Dreier/Schulze aaO § 2 UrhG Rdn. 136; Schricker/Loewenheim aaO § 2 UrhG Rdn. 122; Wandtke/Bullinger/Loewenheim § 2 UrhG Rdn. 71, jeweils m.w.N.) — nicht daran gehindert, sie selbst einzuspielen. Ist er hierzu nicht willens oder imstande, kann er den Rechteinhaber um eine entsprechende Erlaubnis ersuchen, dem Tonträger diese Töne oder Klänge zu entnehmen. Dadurch lässt sich, wie die Revisionserwiderung zutreffend anmerkt, eine angemessene Beteiligung an dem unternehmerischen Aufwand des Rechteinhabers sicherstellen, ohne dass die Freiheit der musikalischen Entwicklung behindert wird.
  18. ee)
    Die Revision macht schließlich ohne Erfolg geltend, trotz der überwältigenden Zunahme des Einsatzes von Samples gebe es kaum einen Fall, in dem ein Tonträgerhersteller gegen die Übernahme kurzer Bestandteile aus einem von ihm hergestellten Tonträger gerichtlich vorgehe. Es mag sein, dass gerichtliche Auseinandersetzungen dieser Art (jedenfalls bislang) nicht besonders häufig sind. Das kann zahlreiche Gründe haben (vgl. Weßling aaO S. 161 ff.; Wegener aaO S. 248 ff.) und dürfte nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass der Rechteinhaber die Übernahme kleinster Tonpartikel oft gar nicht bemerken wird oder nur schwer beweisen kann (vgl. Schricker/Vogel aaO § 85 UrhG Rdn. 43; Wandtke/Bullinger/Schaefer aaO § 85 UrhG Rdn. 25). Schwierigkeiten bei der Feststellung und dem Nachweis einer Rechtsverletzung können aber kein Grund für eine Einschränkung des Rechtsschutzes sein. Den Klägern kann es jedenfalls nicht zum Nachteil gereichen, dass andere Inhaber von Tonträgerherstellerrechten — aus welchen Gründen auch immer — von einer Durchsetzung ihrer Rechte absehen.
  19. 3.
    Die Revision rügt jedoch mit Erfolg, dass das Berufungsgericht nicht geprüft hat, ob die Beklagten sich hinsichtlich des Eingriffs in das Tonträgerherstellerrecht der Kläger auf das Recht zur freien Benutzung nach § 24 Abs. 1 UrhG berufen können. Nach § 24 Abs. 1 UrhG darf ein selbständiges Werk, das in freier Benutzung des Werkes eines anderen geschaffen worden ist, ohne Zustimmung des Urhebers des benutzten Werkes veröffentlicht und verwertet werden.
  20. a)
    Die Vorschrift ist hier allerdings nicht unmittelbar anwendbar, weil sie nach ihrem Wortlaut die Benutzung des Werkes eines anderen voraussetzt. Diese Voraussetzung ist bei der — vorliegend gegebenen — Benutzung eines fremden Tonträgers nicht erfüllt. Ein Tonträger ist nach § 85 Abs. 1 UrhG — wie bereits oben unter II 2 b bb ausgeführt ist — nicht als Werk, also als persönliche geistige Schöpfung (§ 2 Abs. 2 UrhG), sondern wegen der in ihm verkörperten unternehmerischen Leistung geschützt.
  21. b)
    Die Regelung des § 24 Abs. 1 UrhG ist jedoch im Falle der Benutzung eines fremden Tonträgers grundsätzlich entsprechend anwendbar (Rehbinder, Urheberrecht, 15. Aufl., Rdn. 815 und 379; Wegener aaO S. 245; vgl. BGHZ 175, 135 Tz. 24 ff. — TV-Total, zur entsprechenden Anwendbarkeit des § 24 Abs. 1 UrhG auf eine Benutzung von Filmträgern; a.A. Schack, Urheber- und Urhebervertragsrecht, 4. Aufl., Rdn. 624; Dierkes aaO S. 23 f.). Auf die Verwertungsrechte des Tonträgerherstellers sind nach § 85 Abs. 4 UrhG die für das Urheberrecht geltenden Schrankenregelungen im 6. Abschnitt des 1. Teils des UrhG entsprechend anzuwenden. Auch bei der Bestimmung des § 24 Abs. 1 UrhG handelt es sich der Sache nach um eine, wenn auch an anderer Stelle des Urheberrechtsgesetzes geregelte Schranke des Urheberrechts. Die Revision weist zudem mit Recht darauf hin, dass es Sinn und Zweck des § 24 Abs. 1 UrhG, eine kulturelle Fortentwicklung zu ermöglichen, zuwiderliefe, wenn zwar der Urheber eine freie Benutzung des Werkes hinnehmen müsste, der Tonträgerhersteller aber eine freie Benutzung des das Werk enthaltenden Tonträgers verhindern könnte. Muss selbst der Urheber eine Beschränkung seines Urheberrechts hinnehmen, ist auch dem Tonträgerhersteller eine Einschränkung seines Leistungsschutzrechts zuzumuten (vgl. Bindhardt aaO S. 132).
  22. c)
    Eine entsprechende Anwendung des § 24 Abs. 1 UrhG kommt allerdings in den beiden folgenden Fällen nicht in Betracht:
  23. aa)
    Aus dem Sinn und Zweck des § 24 Abs. 1 UrhG, eine Fortentwicklung des Kulturschaffens zu ermöglichen, ergibt sich nicht nur der Grund, sondern auch eine Grenze für eine entsprechende Anwendung dieser Bestimmung. Ist derjenige, der die auf einem fremden Tonträger aufgezeichneten Töne oder Klänge für eigene Zwecke verwenden möchte, imstande, diese selbst herzustellen, stehen die Rechte des Tonträgerherstellers einer Fortentwicklung des Kulturschaffens nicht im Wege. In diesem Fall gibt es für einen Eingriff in seine unternehmerische Leistung keine Rechtfertigung. Die Regelung des § 24 Abs. 1 UrhG ist daher nicht entsprechend anwendbar, wenn es möglich ist, die auf dem Tonträger aufgezeichnete Tonfolge selbst einzuspielen. Es kann nicht abschließend beurteilt werden, ob im vorliegenden Rechtsstreit aus diesem Grund eine entsprechende Anwendung des § 24 Abs. 1 UrhG ausscheidet. Das Berufungsgericht hat offen gelassen, ob die Beklagten die übernommene Rhythmussequenz selbst hätten erzeugen können.
  24. bb)
    Eine entsprechende Anwendung des § 24 Abs. 1 UrhG ist ferner ausgeschlossen, wenn es sich bei der auf dem Tonträger aufgezeichneten Tonfolge um ein Werk der Musik handelt und diesem durch die Benutzung des Tonträgers erkennbar eine Melodie entnommen und einem neuen Werk zugrunde gelegt wird (§ 24 Abs. 2 UrhG). In einem solchen Fall kann sich derjenige, der in das Leistungsschutzrecht des Tonträgerherstellers eingreift, ebenso wenig wie derjenige, der in das Urheberrecht des Komponisten eingreift, auf ein Recht zur freien Benutzung nach § 24 Abs. 1 UrhG berufen. Auch insoweit kann mangels ausreichender Feststellungen des Berufungsgerichts nicht beurteilt werden, ob eine entsprechende Anwendung des § 24 Abs. 1 UrhG ausgeschlossen ist.
  25. d)
    Bei der entsprechenden Anwendung des § 24 Abs. 1 UrhG auf Tonträger gelten grundsätzlich keine anderen Anforderungen als bei der unmittelbaren Anwendung auf Werke. Auch die Benutzung fremder Tonträger ist ohne Zustimmung des Berechtigten nur erlaubt, wenn dabei ein selbständiges Werk geschaffen wird (vgl. BGHZ 175, 135 Tz. 25 ff. – TV-Total, zur Benutzung eines Filmträgers). Einer entsprechenden Heranziehung der nach § 24 UrhG geltenden Anforderungen an eine freie Benutzung steht, anders als die Revisionserwiderung meint, nicht entgegen, dass der zur Beurteilung der Selbständigkeit erforderliche Vergleich zwischen dem schöpferischen Gehalt des benutzten Tonträgers und dem schöpferischen Gehalt des neuen Werkes nicht möglich ist, weil die durch § 85 Abs. 1 UrhG geschützte unternehmerische Leistung des Tonträgerherstellers keinen eigenschöpferischen Gehalt hat (vgl. Dierkes aaO S. 23 f.). Die für eine freie Benutzung nach § 24 UrhG erforderliche Selbständigkeit des neuen Werkes gegenüber dem benutzten Werk setzt zwar voraus, dass das neue Werk einen ausreichenden Abstand zu den entlehnten eigenpersönlichen Zügen des benutzten Werkes hält, wobei dies nur dann der Fall ist, wenn die entlehnten eigenpersönlichen Züge des älteren Werkes angesichts der Eigenart des neuen Werkes verblassen (BGHZ 122, 53, 60 — Alcolix; 141, 267, 280 — Laras Tochter; 175, 135 Tz. 29 — TV-Total). Bei der Beurteilung der Benutzung eines Tonträgers kann jedoch in entsprechender Weise geprüft werden, ob das neue Werk einen ausreichenden Abstand zu den dem benutzten Tonträger entnommenen Tonfolgen wahrt. Selbst wenn diese für sich genommen nicht den urheberrechtlichen Schutzanforderungen genügen, steht dies nicht dem zur Beurteilung der Selbständigkeit erforderlichen Vergleich entgegen, ob das neue Werk zu der aus dem benutzten Tonträger entlehnten Tonfolge einen so großen Abstand hält, dass es seinem Wesen nach als selbständig anzusehen ist (vgl. BGHZ 175, 135 Tz. 36 zur einem Filmträger entlehnten Bildfolge).
  26. 4.
    Die Revision rügt ohne Erfolg, dass das Berufungsgericht sein Urteil auch hinsichtlich der Verurteilung der Beklagten zur Herausgabe der Tonträger an einen Gerichtsvollzieher zum Zwecke der Vernichtung für vorläufig vollstreckbar erklärt hat. Auch insoweit handelt es sich bei der Entscheidung des Berufungsgerichts um ein Berufungsurteil in einer vermögensrechtlichen Streitigkeit, das nach § 708 Nr. 10 ZPO ohne Sicherheitsleistung für vorläufig vollstreckbar zu erklären ist. Dabei hat das Berufungsgericht gemäß § 711 ZPO ausgesprochen, dass die Beklagten eine Vollstreckung der Kläger wegen dieser Verurteilung gegen Sicherheitsleistung von 10.000 € abwenden können, sofern nicht die Kläger vor der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leisten.
  27. Die Revision macht ohne Erfolg geltend, aus dem Umstand, dass bei Maßnahmen nach § 98 Abs. 1 UrhG a.F. gemäß § 98 Abs. 3 UrhG a.F. der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten sei, ergebe sich, dass durch eine Vernichtung vor der Rechtskraft eines entsprechenden Urteils keine vollendeten Tatsachen geschaffen werden dürften (so aber Dreier in Dreier/Schulze aaO § 98 UrhG Rdn. 7; Schricker/Wild aaO §§ 98/99 UrhG Rdn. 12; Möhring/Nicolini/Lütje, UrhG, 2. Aufl., § 98 UrhG Rdn. 21). Die Revision berücksichtigt nicht, dass die frühere Bestimmung des § 98 Abs. 4 Satz 2 UrhG, wonach Vernichtungsmaßnahmen erst vollzogen werden dürfen, nachdem dem Eigentümer gegenüber rechtskräftig darauf erkannt worden ist, bei der Neufassung des § 98 UrhG durch das am 1. Juli 1990 in Kraft getretene Gesetz zur Stärkung des Schutzes des geistigen Eigentums und zur Bekämpfung der Produktpiraterie (PrPG) vom 7. März 1990 (BGBl. I S. 422) ersatzlos entfallen ist. Diese gesetzgeberische Wertung würde unterlaufen, wenn eine Vollstreckung von Vernichtungsmaßnahmen vor Rechtskraft des Urteils nach wie vor unzulässig wäre. Den schutzwürdigen Interessen des Vollstreckungsschuldners ist zudem, wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, durch die Möglichkeit hinreichend Rechnung getragen, einen Schutzantrag nach den §§ 712, 714 ZPO zu stellen (falls die Vollstreckung den Nachteil bringen würde) und Schadensersatzansprüche nach § 717 Abs. 2 ZPO geltend zu machen (falls das für vorläufig vollstreckbar erklärte Urteil aufgehoben oder abgeändert wird). Soweit die Revision geltend macht, die Vollstreckung eines später abgeänderten oder aufgehobenen Urteils könne nicht nur die nach den §§ 712, 714, 717 Abs. 2 ZPO geschützten Interessen des Schuldners, sondern auch Interessen Dritter — hier etwa die des Urhebers oder des darbietenden Künstlers — betreffen (vgl. nunmehr § 98 Abs. 4 Satz 2 UrhG in der Fassung des am 1.9.2008 in Kraft getretenen Gesetzes zur Verbesserung der Durchsetzung von Rechten des geistigen Eigentums vom 7.7.2008 [BGBl. I S. 1191]), haben die Beklagten bereits nicht konkret dargelegt, inwieweit im vorliegenden Fall berechtigte Interessen Dritter beeinträchtigt sein könnten.
  28. III.
    Das Berufungsurteil ist danach auf die Revision der Beklagten aufzuheben. Die Sache ist zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
  29. Das Berufungsgericht wird zu prüfen haben, ob die Beklagten sich hinsichtlich des Eingriffs in das Tonträgerherstellerrecht der Kläger (§ 85 Abs. 1 Satz 1, §§ 16, 17 UrhG) auf das Recht zur freien Benutzung nach § 24 Abs. 1 UrhG berufen können. Sollte dies der Fall sein, ist die Klage unbegründet, weil dann auch die vom Berufungsgericht bislang nicht geprüften Ansprüche aus einem Urheberrecht des Klägers zu 1 (§ 2 Abs. 1 Nr. 2, §§ 16, 17 UrhG) und aus Künstlerleistungsschutzrechten der Kläger (§§ 73, 77 Abs. 2 Satz 1, §§ 16, 17 UrhG) jedenfalls im Hinblick auf § 24 Abs. 1 UrhG ausscheiden. Sollten die Voraussetzungen einer freien Benutzung nicht vorliegen, ist die Klage dagegen begründet. Gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass die Beklagten den Klägern — im Falle einer Verletzung ihrer Rechte als Tonträgerhersteller — gemäß § 97 Abs. 1 UrhG a.F. zur Unterlassung, zum Schadensersatz und zur Auskunftserteilung sowie gemäß § 98 Abs. 1 UrhG a.F. zur Herausgabe der Tonträger zum Zwecke der Vernichtung verpflichtet sind, hat die Revision keine Einwände erhoben und es sind insoweit auch keine Rechtsfehler ersichtlich.