Die Mehrheiten nach Nizza und dem Verfassungsentwurf

Nachdem der „Verfassungsgipfel“ im ersten Anlauf gescheitert ist, kommt das einfache Verfahren nach dem Verfassungsentwurf nicht zum Tragen. In der Verfassung war vorgesehen, dass der Ministerrat mit der Mehrheit der Stimmen der Mitgliedstaaten entscheidet, wenn zugleich die von den zustimmenden Vertretern abgegeben Stimmen drei Fünftel der Bevölkerung (60 %) der Union repräsentieren. Ab 2004 kommt das komplizierte Verfahren von Nizaa zur Anwendung.

Neue Stimmgewichtung nach Nizza

Die neue Stimmgewichtung betrifft die Organe Rat und Europäisches Parlament. Neben den Organen der Europäischen Union sind fünf weitere Institutionen Teil der Europäischen Union. Als beratende Gremien gibt es den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen. Für die Europäische Geldpolitik und die Stabilität der gemeinsamen Währung Euro ist die Europäische Zentralbank zuständig. Der Europäische Bürgerbeauftragte nimmt sich als Ombudsman unmittelbar der Probleme der Bürgerinnen und Bürger an, soweit sie europäische Institutionen betreffen. Die Europäische Investitionsbank hat die Aufgabe, zu einer ausgewogenen und reibungslosen Entwicklung des Gemeinsamen Marktes im Interesse der EU beizutragen.

Der Europäische Rat von Nizza hat die Voraussetzung dafür geschaffen, dass die EU auch nach der bevorstehenden Erweiterung handlungsfähig bleibt. Zugleich wurde der Beitritt antizipiert, indem Regelungen für die Zusammensetzung der Organe nach dem Beitritt der Staaten getroffen wurden. So mussten etwa Regelungen gefunden werden, wie in den neuen Mitgliedstaaten Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) durchgeführt werden und die neu gewählten Personen zu Mitgliedern des EP werden. Daher wurde

  • eine Ausweitung des Mehrheitsprinzips bei EU-Ratsentscheidungen,
  • eine neue Verteilung der Stimmengewichtung im Rat,
  • eine Neuregelung der Sitze im Europäischen Parlament
  • und eine Änderung der Zusammensetzung der Europäischen Kommission

beschlossen.

Europäisches Parlament

Die Neuverteilung der Sitze im EP gilt ab den nächsten Europäischen Wahlen im Jahr 2004. Die Höchstzahl der europäischen Abgeordneten (zurzeit 700) wird auf 732 erhöht.

Tabelle: Das Europäische Parlaments und der Rat ab 2004
Mitgliedstaaten EP Sitze Rat Stimmen
Deutschland 99 29
Vereinigtes Königreich 78 29
Frankreich 78 29
Italien 78 29
Spanien 54 27
Polen 54 27
Niederlande 27 13
Griechenland 24 12
Tschechische Republik 24 12
Belgien 24 12
Ungarn 24 12
Portugal 24 10
Schweden 19 10
Österreich 18 10
Slowakei 14 7
Dänemark 14 7
Finnland 14 7
Irland 13 7
Litauen 13 7
Lettland 9 4
Slowenien 7 4
Estland 6 4
Zypern 6 4
Luxemburg 6 4
Malta 5 3
GESAMT EU 732 321

Die Zahl der den derzeitigen Mitgliedstaaten zustehenden Sitze wurde um 91 verringert (von derzeit 626 auf 535 Sitze). Nur Deutschland und Luxemburg behalten die gleiche Abgeordnetenzahl wie bisher. Allerdings gilt diese Verringerung vollständig erst für die im Jahr 2009 gewählte Versammlung. Da die Europäische Union im Jahr 2004 noch nicht 27 Mitgliedstaaten umfassen wird, hat die Regierungskonfernez von Nizza Übergangsregelungen zur Sitzverteilung beschlossen. Da davon auszugehen ist, dass die neuen Mitgliedstaaten im Laufe der Wahlperiode 2004-2009 der EU beitreten werden – und dass folglich in diesen Staaten zusätzliche europäische Abgeordnete gewählt werden -, ist vorgesehen, dass die Höchstzahl von 732 Sitzen im Europäischen Parlament vorübergehend überschritten werden darf, um die Abgeordneten derjenigen Staaten aufzunehmen, die den Beitrittsvertrag nach den europäischen Wahlen von 2004 unterzeichnen.

Der Rat

Das mächtigste Organ der EU – der Rat – setzt sich aus Vertretern der nationalen Regierungen zusammen. Die Mitglieder sind dabei nicht fest bestimmt, sondern ergeben sich aus dem Gegenstand der Verhandlungen. So kommen einmal die Finanzminister, ein anderes Mal die Gesundheitsminister zusammen (daher auch Ministerrat).

Die Neuregelung zur Verteilung der Stimmen im Rat war für Deutschland ein wichtiger Punkt, da Deutschland trotz des Beitritts der DDR keine zusätzlichen Stimmen erhalten hat. Mit dem Nizza-Vertrag wurde die jedem Mitgliedstaat zugewiesene Stimmenzahl geändert. Zwar wurde die Stimmenzahl für alle Mitgliedstaaten erhöht, aber für die Mitgliedstaaten mit den größten Bevölkerungszahlen stärker als für die anderen.

Im EG-Vertrag sind unteschiedliche Mehrheiten vorgesehen, nämlich

  • einfache Mehrheit
  • qualifizierte Mehrheit
  • Einstimmigkeit

Nach Art. 205 Abs, 1 EG-Vertrag entscheidet der Rat mit der Mehrheit seiner Stimmen (einfache Mehrheit). Wenn eine qualifizierte Mehrheit erforderlich ist, gilt folgendes Verfahren.

Die Stimmgewichtung nach dem Vertrag von Nizza für die qualifizierte Mehrheit entspricht einem Kompromiss, wobei man sich einerseits an der Bevölkerungszahl orientiert hat, andererseits aber den kleineren Staaten relativ mehr an Stimmen zubilligte. So hat Deutschland im Rat in etwa 50 % der Stimmen, die mit der der Bevölkerungszahl korrespondieren würde, während Malta als bevölkerungsärmstem Land das Zehnfache zugesprochen wurde. Anders ausgedrückt: Wenn die Stimmenzahl mit der Bevölkerungszahl korrespondieren würde, hätte Deutschland jeweils rd. 200 Mal so viele Stimmen im Rat bzw. Abgeordnete im Parlament wie Malta. Tatsächlich hat Deutchland im Rat gerade einmal das Zehnfache der Stimmen.

Ab 1. November 2004 wird das System der Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit geändert. Das Ergebnis ist kompliziert. Eine qualifizierte Mehrheit erfordert 232 Stimmen. Ab diesem Zeitpunkt gilt die qualifizierte Mehrheit als erreicht, wenn zusätzlich zwei Bedingungen erfüllt sind:

  • Auf einen Beschluss entfällt eine bestimmte Stimmenzahl (die Schwelle für die qualifizierte Mehrheit) und
  • dem Beschluss stimmt die Mehrheit der Mitgliedstaaten zu.

Außerdem sieht der Vertrag die Möglichkeit vor, dass ein Mitglied des Rates eine Überprüfung beantragen kann, ob die qualifizierte Mehrheit mindestens 62 % der Gesamtbevölkerung der Union entspricht. Falls sich erweist, dass diese Bedingung nicht erfüllt ist, kommt der betreffende Beschluss nicht zustande. Allerdings kommt diese Bedingung nur zum Tragen, wenn eine Überprüfung verlangt wird. Im Ergebnis haben die kleinen Staaten sich gegen eine Übermacht der großen Staaten im Hinblick auf die Bevölkerungszahl durchgesetzt und die großen Staaten sich gegen eine Übermacht der Mehrheit der kleinen Staaten (je Staat) abgesichert.

Für eine gestaltende Mehrheit sind beispielsweise nicht ausreichend:

  • die 13 größten Mitgliedstaaten, die ca. 88 % der Bevölkerung repräsentieren;
  • die jetzigen 15 Mitgliedstaaten, auch nicht die jetzige EURO Gruppe;
  • 23 Mitgliedstaaten mit kleinerem und mittlerem Bevölkerungsanteil.

Für eine Sperrminorität genügen

  • 14 Mitgliedstaaten mit den geringsten Bevölkerungsanteilen, die zusammen 11.6 % der EU-Bevölkerung repräsentieren;
  • die mittel- und osteuropäischen Staaten; also die jetzigen Beitrittskandidaten;
  • Deutschland und zwei weitere große Mitgliedstaaten;
  • Staaten, die zusammen über mehr als 38 % der EU-Bevölkerung repräsentieren würden; die drei weiteren Großen würden – ohne Deutschland – ein weiteres Land mit mindestens 4 Ratsstimmen zur Sperrminorität benötigen.

Tabelle: Vergleich: Stimmgewichtung – Bevölkerung
Staat Bevölkerung Rat Stimmen EP Stimmen

Deutschland

17,06 % 8,41 % 13,52 %

Großbritannien

12,37 % 8,41 % 9,84 %

Frankreich

12,19 % 8,41 % 9,84 %

Italien

11,98 % 8,41 % 9,84 %

Spanien

8,18 % 7,83 % 9,84 %

Polen

8,03 % 7,83 % 6,83 %

Rumänien

4,67 % 4,06 % 6,83 %

Niederlande

3,30 % 3,77 % 3,42 %

Griechenland

2,18 % 3,48 % 3,01 %

Tschechien

2,14 % 3,48 % 2,73 %

Belgien

2,12 % 3,48 % 3,01 %

Ungarn

2,08 % 3,48 % 2,73 %

Portugal

2,08 % 3,48 % 3,01 %

Schweden

1,85 % 2,90 % 2,46 %

Bulgarien

1,7 % 2,90 % 2,32 %

Österreich

1,68 % 2,90 % 2,32 %

Slowakei

1,12 % 2,03 % 1,78 %

Dänemark

1,10 % 2,03 % 1,78 %

Finanland

1,08 % 2,03 % 1,78 %

Irland

0,79 % 2,03 % 1,64 %

Litauen

0,77 % 2,03 % 1,64 %

Lettland

0,50 % 1,16 % 1,09 %

Slowenien

0,42 % 1,16 % 0,96 %

Estland

0,29 % 1,16 % 0,82 %

Zypern

0,17 % 1,16 % 0,82 %

Luxemburg

0,08 % 1,16 % 0,82 %

Malta

0,08 % 0,87 % 0,68 %

Nach dem Verfassungsentwurf

Art. 22 Abs. 3 des Entwurfs für die Euroäische Verfassung sieht vor, dass der Ministerrat grundsätzlich mit qualifizierter Mehrheit entscheidet. Die qualifizierte Mehrheit ist dann gegeben, wenn die Mehrheit der Mitgliedstaaten zustimmt und die zustimmenden Mitgliedstaaten mindestens 60 % der EU-Bevölkerung repräsentieren.
Die 13 größten Mitgliedstaaten, die ca. 88 % der Bevölkerung repräsentieren, würden also nach dem Verfassungsentwurf eine qualifizierte Mehrheit stellen können – nach Nizza nicht. Genaus hätten die 23 kleinseren Staaten die qualifizierte Mehrheit – nach dem Vertrag von Nizza nicht.

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