Das Superadditum des Reichtums

Aus Georg Simmel: Die Philosophie des Geldes (2. Aufl. 1907):

Georg Simmel (1858–1918)

Und dies läuft schließlich in eine allgemeine Erscheinung aus, die man das Superadditum des Reichtums nennen und dem unearned profit der Bodenrente vergleichen könnte. Der Reiche genießt Vorteile, noch über den Genuß desjenigen hinaus, was er sich für sein Geld konkret beschaffen kann. Der Kaufmann handelt mit ihm solider und billiger als mit dem Armen, jedermann, auch der gar nichts von seinem Reichtum profitiert, begegnet ihm zuvorkommender, als dem Armen, es schwebt eine ideale Sphäre fragloser Bevorzugtheit um ihn. Allenthalben kann man beobachten, wie dem Käufer der kostspieligeren Warengattung, dem Benutzer der höheren Eisenbahnklasse usw. allerhand kleine Bevorzugungen eingeräumt werden; mit dem von ihm bezahlten Sachwert haben diese eigentlich so wenig zu tun, wie das freundlichere Lächeln, mit dem der Kaufmann die teurere Ware verkauft, mit dieser, sondern sie bilden eine Gratisbeilage, die nur dem Konsumenten des Billigeren versagt bleibt, ohne daß er doch — und das ist gewissermaßen das Härteste dabei — über sachliche Übervorteilung zu klagen berechtigt wäre. Am eigentümlichsten vielleicht zeigt dies eine an sich sehr minime Erscheinung. In den Trambahnen einiger Städte gibt es zwei Klassen, die verschiedene Preise kosten, ohne daß die höhere irgendeinen sachlichen Vorteil oder größere Bequemlichkeit böte. Allein man erkauft mit dem höheren Preise das ausschließliche Zusammensein mit Personen, die einen solchen nur anlegen, um von den billiger Fahrenden abgeschlossen zu sein. Hier kann sich der Wohlhabendere einen Vorteil ganz unmittelbar dadurch, daß er mehr Geld bezahlt — nicht erst vermöge eines sachlichen Äquivalents für seinen Aufwand — verschaffen. Äußerlich genommen liegt damit das Gegenteil des Superadditums vor, denn es wird dem Wohlhabenden für sein Geld nicht relativ mehr, sondern relativ weniger geleistet als dem Armen. Allein dennoch ist das Superadditum des Geldes hier sozusagen in negativer, aber besonders reiner Gestalt gegeben: der Wohlhabende gewinnt seinen Vorteil ohne Umweg über eine Sache und ausschließlich dadurch, daß andere nicht so viel Geld aufwenden können wie er. Ja sogar als eine Art moralischen Verdienstes gilt der Reichtum; was sich nicht nur in dem Begriff der Respectability oder in der populären Bezeichnung wohlhabender Leute als »anständiger«, als »besseres Publikum« ausdrückt, sondern auch in der Korrelaterscheinung: daß der Arme behandelt wird, als hätte er sich etwas zuschulden kommen lassen, daß man den Bettler im Zorne davonjagt, daß auch gutmütige Personen sich zu einer selbstverständlichen Überlegenheit über den Armen legitimiert glauben. Wenn für die Straßburger Schlossergesellen im Jahr 1536 bestimmt wird, der Montag Nachmittag solle für alle die arbeitsfrei sein, die über acht Kreuzer Lohn hätten, so wird damit den materiell besser Situierten eine Wohltat erwiesen, die nach der Logik der Moral gerade den Dürftigen hätte zukommen sollen. Aber gerade zu so perversen Erscheinungen steigert sich mehr als einmal das Superadditum des Reichtums: der praktische Idealismus, etwa äußerlich unbelohnter wissenschaftlicher Arbeit, wird für gewöhnlich an einem reichen Manne mit größerem Respekt betrachtet, als ethisch hervorragender verehrt, als an einem armseligen Schulmeister! Dieser Wucherzins des Reichtums, diese Vorteile, die er seinem Besitzer zuwachsen läßt, ohne daß dieser etwas dafür aufzuwenden hätte, ist an die Geldform der Werte geknüpft. Denn alles dies ist offenbar Ausdruck oder Reflex jener unbegrenzten Freiheit der Verwendung, die das Geld allen anderen Werten gegenüber auszeichnet. Hierdurch kommt zustande, daß der Reiche nicht nur durch das wirkt, was er tut, sondern auch durch das, was er tun könnte: weit über das hinaus, was er nun wirklich mit seinem Einkommen beschafft, und was andere davon profitieren, wird das Vermögen von einem Umkreis zahlloser Verwendungsmöglichkeiten umgeben, wie von einem Astralleib, der sich über seinen konkreten Umfang hinausstreckt: darauf weist unzweideutig hin, daß die Sprache erheblichere Geldmittel als »Vermögen« — d.h. als das Können, das Imstandesein schlechthin — bezeichnet. Alle diese Möglichkeiten, von denen freilich nur ein ganz geringer Teil Wirklichkeit werden kann werden dennoch psychologisch saldiert, sie gerinnen zu dem Eindruck einer nicht genau bestimmbaren, jede Festlegung ihres erreichbaren Erfolges ablehnenden Macht, und zwar in um so umfänglicherer und eindrucksvollerer Art, je beweglicher das Vermögen, je leichter es zu jedem möglichen Zweck verfügbar ist, d.h. also, je vollständiger jeder Vermögensbestand Geld oder in Geld umsetzbar ist und je reiner das Geld selbst zum Werkzeug und Durchgangspunkt ohne jede eigene teleologische Qualifikation wird. Die reine Potentialität, die das Geld darstellt, insofern es bloß Mittel ist, verdichtet sich zu einer einheitlichen Macht- und Bedeutungsvorstellung, die auch als konkrete Macht und Bedeutung zugunsten des Geldbesitzers wirksam wird — ungefähr wie dem Reize eines Kunstwerkes nicht nur sein Inhalt und die mit sachlicher Notwendigkeit damit verbundenen seelischen Reaktionen zugerechnet werden, sondern all die zufälligen, individuellen, indirekten Gefühlskombinationen, die es, hier so und dort anders, anklingen läßt und deren unbestimmte Summe doch erst das Ganze seines Wertes und seiner Bedeutsamkeit für uns umschreibt.

In dem Wesen dieses Superadditums, wenn es so richtig gedeutet ist, liegt es, daß es um so stärker hervortreten muß, je vollständiger jene Chance und Wahlfreiheit seiner Verwendung vermöge der Gesamtlage seines Besitzers realisierbar wird. Dies ist am wenigsten bei dem Armen der Fall: denn dessen Geldeinkommen ist, weil es nur für die Notdurft des Lebens ausreicht, von vorn herein determiniert und läßt der Auswahl unter seinen Verwendungsmöglichkeiten nur einen verschwindend kleinen Spielraum. Derselbe erweitert sich mit steigendem Einkommen, so daß jeder Teil des letzteren das Superadditum in dem Maß erwirbt, in dem er von den zur Befriedigung des Notdürftigen, Generellen und Vorherbestimmten erforderlichen Teilen absteht; d.h. also, jeder zu der bereits bestehenden Einnahme hinzukommende Teil besitzt einen höheren Zusatz jenes Superadditums — natürlich unterhalb einer sehr hoch gelegenen Grenze, oberhalb welcher jeder Einkommensteil in dieser Hinsicht gleichmäßig qualifiziert ist. An diesem Punkte kann man die fragliche Erscheinung in einer speziellen Konsequenz ergreifen, und zwar auf Grund einer, wie mir scheint, auch sonst folgenreichen Überlegung. Viele Güter sind in solcher Masse vorhanden, daß sie von den zahlungsfähigsten Elementen der Gesellschaft nicht konsumiert werden können, sondern, um überhaupt abgesetzt zu werden, auch den ärmeren und ärmsten Schichten angeboten werden müssen. Deshalb dürfen derartige Waren nicht teurer sein, als diese Schichten im äußersten Falle zu zahlen imstande sind. Dies könnte man als Gesetz der konsumtiven Preisbegrenzung bezeichnen: eine Ware kann niemals teurer sein, als die unbemitteltste soziale Schicht noch bezahlen kann, der sie wegen ihrer vorhandenen Menge noch angeboten werden muß. Man möchte hierin eine Wendung der Grenznutzentheorie aus dem Individuellen in das Soziale erblicken: statt des niedrigsten Bedürfnisses, das noch mit einer Ware gedeckt werden kann, wird hier das Bedürfnis des Niedrigsten für die Preisgestaltung maßgebend. Diese Tatsache bedeutet einen ungeheuren Vorteil für den Wohlhabenden. Denn dadurch stehen auch ihm nun gerade die unentbehrlichsten Güter zu einem weit niedrigeren Preise zur Verfügung, als er dafür erlegen würde, wenn man es ihm nur abverlangte; dadurch, daß der Arme die einfachen Lebensmittel kaufen muß, macht er sie für den Reichen billig. Wenn dieser selbst einen proportional ebenso großen Teil seines Einkommens an die primärsten Bedürfnisse (Nahrung, Wohnung, Kleider) wenden müßte, wie der Arme, so würde er noch immer, absolut genommen, mehr für Luxuswünsche übrig behalten als dieser. Allein er hat dazu noch den additionellen Vorteil, daß er seine nötigsten Bedürfnisse mit einem relativ viel kleineren Teil seines Einkommens decken kann. Mit dem darüber hinausreichenden nun hat er die Wahlfreiheit in der Verwendung des Geldes, die ihn zum Gegenstand jener, sein tatsächliches ökonomisches Können überragenden Achtung und Bevorzugung macht. Die Geldmittel des Armen sind nicht von dieser Sphäre unbegrenzter Möglichkeiten umgeben, weil sie von vornherein ganz unmittelbar und zweifellos in sehr bestimmte Zwecke einmünden. In seiner Hand sind sie also gar nicht in demselben reinen und abstrakten Sinne »Mittel«, wie in der des Reichen, weil der Zweck schon sogleich in sie hineinreicht, sie färbt und dirigiert, weshalb denn auch unsere Sprache sehr feinfühlig erst den mit erheblichen Geldmitteln Ausgestatteten überhaupt als »bemittelt« bezeichnet. Die mit diesen verbundene Freiheit führt noch nach anderen Seiten hin zu einem Superadditum. Wo öffentliche Funktionäre nicht besoldet werden, ist der Erfolg der, daß nur wohlhabende Leute führende Stellen bekleiden können; so mußte etwa der General des achäischen Bundes nicht weniger als — wenigstens bis vor kurzem — ein englisches Parlamentsmitglied ein wohlhabender Mann sein, und so bildet sich in Ländern, die ihre Beamten sehr niedrig bezahlen, oft eine völlige Plutokratie, eine Art Erblichkeit der hohen Ämter in wenigen Familien heraus. Während die Unbesoldetheit der Stellungen das Geldinteresse von dem Interesse des Dienstes scheint lösen zu sollen, wird so gerade die Beamtenstellung mit allen Ehren, Macht und Chancen, die sie bietet, zu einem Annex des Reichtums. Und daß sich dies an die Geldform desselben knüpft, liegt nahe, weil nur diese wegen ihrer teleologischen Indifferenz der Persönlichkeit die ganz freie Disposition über ihre Zeit, Aufenthaltsort und Betätigungsrichtung läßt. Wenn der Reichtum, wie wir oben sahen, an sich schon Ehrungen erwirbt und, den Doppelsinn des »Verdienstes« mißbrauchend, sich einer Art moralischer Schätzung erfreut, so verdichtet sich dies bei unbesoldeten Staatsfunktionen zu dem, dem Armen unerreichbaren, Machtbesitz der führenden Ämter. Und mit diesen ist nun wieder das weitere Superadditum des Ruhmes patriotischer Aufopferung verbunden, der sicher oft verdient ist, aber auch auf ganz andere als ethische Motive hin dem bloßen Geldbesitz sozusagen auf rein technischem Wege zu Gebote steht. Das Gleiche noch eine Stufe höher hinaufverfolgend, sehen wir, wie Ende des Mittelalters, z.B. in Lübeck, wohlhabende Leute sich gern an mehreren Bruderschaften beteiligten, um dadurch um so sichrer für ihr Seelenheil zu sorgen. Die mittelalterliche Kirche stellte auch für den Gewinn der religiösen Güter technische Wege zur Verfügung, die nur für den Reichen gangbar waren und zunächst einmal noch jenseits ihres transzendenten Zieles ein Quantum irdischen Ansehens und Vorteils, wie jene Teilhaberschaft an mehrerlei Bruderschaften, als ihre unbezahlte Zugabe mit sich brachten. Mehr nach einer rein psychologischen Seite hin zeitigt das Überschreiten der vorhin bezeichneten Vermögensgrenze das folgende Superadditum. Bei einem oberhalb ihrer stehenden Vermögen spielt die Frage, was ein begehrter Gegenstand kostet, in vielen Fällen überhaupt keine Rolle mehr. Das besagt viel mehr und tieferes, als der gewöhnliche Sprachgebrauch mit diesem Ausdruck verbindet. So lange nämlich das Einkommen noch in der angedeuteten Weise irgendwie für bestimmte Verwendungen festgelegt ist, ist jede Ausgabe unvermeidlich mit dem Gedanken der für sie erforderten Geldaufwendung belastet; für die Mehrzahl der Menschen schiebt sich zwischen Wunsch und Befriedigung noch die Frage: was kostet es? und bewirkt eine gewisse Materialisierung der Dinge, die für den wirklichen Geldaristokraten ausgeschaltet ist. Wer Geld über ein bestimmtes Maß hinaus besitzt, gewinnt damit noch den zusätzlichen Vorteil, es verachten zu können. Die Lebensführung, die nach dem Geldwert der Dinge überhaupt nicht zu fragen braucht, hat einen außerordentlichen ästhetischen Reiz, sie kann sich über Erwerbungen nach nur sachlichen, ausschließlich von dem Inhalt und der Bedeutung der Objekte abhängigen Gesichtspunkten entscheiden. In so vielen Erscheinungen die Herrschaft des Geldes auch die Eigenartigkeit der Dinge und deren Bewußtsein herabsetzen mag, so sind doch auch die anderen unverkennbar, in denen das Geld diese steigert: Qualitäten der Objekte haben mindestens die psychologische Chance — so selten sie realisiert sein mag — um so individueller hervorzutreten, je mehr das ihnen Gemeinsame, der ökonomische Wert, auf ein außer ihnen stehendes Gebilde projiziert und in ihm lokalisiert Ist. Indem nun jene Lebensführung nach dem Geld nicht fragt, entgeht sie den Ablenkungen und den Schatten, die der rein sachlichen Qualität und Wertung der Dinge durch die dieser innerlich ganz fremde Beziehung auf ihren Geldpreis kommen. Wo also selbst der etwas weniger Bemittelte denselben Gegenstand kaufen kann, wie der ganz Reiche, genießt dieser noch das psychologische Superadditum einer Leichtigkeit, Unmittelbarkeit, Unabgelenktheit des Erwerbes und Genusses, die jenem durch die vor- und mittönende Geldopferfrage getrübt wird. Wenn wir nachher sehen werden, daß die Blasiertheit gerade umgekehrt die Abstumpfung gegen die Besonderheiten und sachlichen Reize der Dinge zum Schatten des Geldreichtums macht, so ist dies kein Beweis gegen jenen Zusammenhang, sondern nur einer für das Wesen des Geldes: durch seine Entfernung von jeder eigenen Bestimmtheit die völlig entgegengesetzt verlaufenden Fäden des inneren und äußeren Lebens aufzunehmen und jedem in der ihm eigenen Richtung ein Werkzeug entschiedenerer Herausbildung und Darstellung zu sein. Darin liegt die unvergleichliche Bedeutung des Geldes für die Entwicklungsgeschichte des praktischen Geistes; mit ihm ist die bisher äußerste Verminderung der Besonderheit und Einseitigkeit aller empirischen Gebilde erreicht. Was man die Tragik der menschlichen Begriffsbildung nennen könnte: daß der höhere Begriff die Weite, mit der er eine wachsende Anzahl von Einzelheiten umfaßt, mit wachsender Leere an Inhalt bezahlen muß, gewinnt im Gelde sein vollkommenes praktisches Gegenbild, d.h. die Daseinsform, deren Seiten Allgemeingültigkeit und Inhaltslosigkeit sind, ist im Geld zu einer realen Macht geworden, deren Verhältnis zu aller Entgegengesetztheit der Verkehrsobjekte und ihrer seelischen Umgebungen gleichmäßig als Dienen wie als Herrschen zu deuten ist. Das Superadditum des Geldbesitzes ist nichts als eine einzelne Erscheinung dieses, man möchte sagen, metaphysischen Wesens des Geldes, daß es über jede Einzelverwendung seiner hinausreicht und, weil es das absolute Mittel ist, die Möglichkeit aller Werte als den Wert aller Möglichkeiten zur Geltung bringt.

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