Rede von Bundesaußenminister Fischer zur europäischen Verfassung

Rede von Bundesaußenminister Fischer zur europäischen Verfassung vor dem Deutschen Bundestag, Berlin, 02.07.2004, (Auszug)

Ich freue mich darüber, dass es trotz aller Unterschiede unter den bisherigen Rednerinnen und Rednern doch eine große Übereinstimmung darüber gibt, das Resultat der Regierungskonferenz und des Konvents, nämlich den Verfassungsvertrag für die erweiterte Europäische Union, durchweg als positiv anzusehen. Ich entnehme dem zugleich – das freut die Bundesregierung überaus -, dass wir hier mit einer breiten Zustimmung zum Ratifizierungsgesetz rechnen können; ich hoffe auch, dass die Ratifikation schnell erfolgen wird. In der Tat, dieser Verfassungsvertrag ist für die erweiterte Union von überragender Bedeutung.

Die Verfassungsgeschichte

Ich bitte Sie, einmal kurz in die Verfassungsgeschichte einzutauchen. Eine Verfassung steht erst einmal auf dem Papier. Natürlich sind zunächst institutionelle Regelungen und Verfahrensentscheidungen von eminent großer Bedeutung. Wer von den im Jahre 1948/49 Lebenden hat damals außer denjenigen, die es kraft Profession und politischer Berufung tatsächlich interessiert hat, aktiven Anteil an den Ergebnissen der Konferenz in Herrenchiemsee genommen? Vertiefen Sie sich einmal in die Verfassungsgeschichte der Vereinigten Staaten. Der damals stattgefundene Verfassungsprozess gilt ja heutzutage als großes historisches Vorbild. Sie werden feststellen, dass dieser Prozess damals alles andere als ein populäres Thema war, das eine Masse an Menschen interessiert hat. Dennoch ist dieses Vorbild als Maßstab unverzichtbar. Deshalb wird es ganz entscheidend darauf ankommen, dass wir bezüglich dieser Verfassung, die wir noch nicht haben – manche haben hier so argumentiert, als hätten wir sie schon -, gesamteuropäisch, das heißt unter Einbeziehung aller Teile der Europäischen Union, sehr intensiv darüber nachdenken, wie wir den Prozess so organisieren können, dass die Verfassung in der Tat in allen Mitgliedstaaten ratifiziert und tatsächlich Wirklichkeit wird.

Die Ausfüllung in der politischen Wirklichkeit

Die zweite Frage ist die der Ausfüllung in der politischen Wirklichkeit. Darauf sollten wir in Zukunft das Hauptaugenmerk lenken. Ohne jetzt auf die Details des Verfassungsprozesses einzugehen, glaube ich, dass neben der irischen Präsidentschaft ausdrücklich auch der italienischen zu danken ist. Lassen Sie mich noch einmal festhalten: 90 Prozent des Verfassungsvertrages sind während der italienischen Präsidentschaft konsentiert worden. Insofern konnte die irische Präsidentschaft auf den Vorarbeiten der italienischen aufbauen.

Verschiedene Rednerinnen und Redner haben ja zu Recht darauf hingewiesen, dass wir uns auch fragen müssen, was die Menschen unter Europa verstehen. Es wird zwar zu Recht gesagt, dass die geringe Wahlbeteiligung ein Warnsignal war. Ich teile aber nicht die Auffassung, dass damit eine Skepsis gegenüber Europa verbunden ist. Warum nicht? Weil ich im Wahlkampf den Eindruck gewonnen habe, dass Europa für viele Menschen eine sehr große Bedeutung hat. Die Leute sind nicht dumm. Sie begreifen sehr wohl, dass die Fragen der inneren Sicherheit, der äußeren Sicherheit, der Wettbewerbsfähigkeit und der Zukunft der Arbeitsplätze heute aufs Engste mit Europa zusammenhängen.

Entscheidend ist eine klare Kenntnis der Rollenverteilung zwischen Europa und den Nationalstaaten. Die Leute fragen sich sehr wohl, wo die Unterschiede liegen, wer sie in Europa vertritt, ob dieses Europa ein Gesicht hat und wer in der Kommission sitzt. Es ist doch tatsächlich so, dass sich die Menschen in der Außen- und Sicherheitspolitik immer noch an die nationale Ebene halten. Dafür sind der Bundeskanzler, der Bundesaußenminister, der Bundesverteidigungsminister und die Entwicklungshilfeministerin zuständig.

In der Wirtschaftspolitik hält man sich ebenfalls an die nationale Ebene, genauso in Fragen der inneren Sicherheit. Das heißt, Europa wird immer wieder auf die gewählten Repräsentanten heruntergebrochen, die man kennt, also auf die jeweilige nationale Öffentlichkeit. Daraus aber den Schluss zu ziehen, die Menschen würden Europa nicht begreifen, halte ich für einen ganz großen Irrtum.

Ich will Ihnen ein Beispiel geben: Nach dem furchtbaren Verbrechen in Madrid hat doch jeder im Volk sofort begriffen, dass es, wenn die Spur zu al-Qaida führt, nicht nur Spanien betrifft. Es hat jeder sofort begriffen, dass wir unsere innere Sicherheit im zusammenwachsenden Europa nicht ausschließlich national definieren können. Die Frage der institutionellen Umsetzung, also wer dafür in Zukunft in Europa steht, ist die brennende politische Frage.

(…)

Ich habe überhaupt nichts gegen Parteipolitik, aber Europa ist ein Europa der Bürger und der Staaten. Wir alle wissen, dass es eine hässliche Seite der Parteipolitik gibt; das betrifft alle Parteien. Es gibt aber auch eine sehr konstruktive und wichtige Seite der Parteipolitik. Ich frage mich dabei nur, ob das Entscheidungsverfahren, das jetzt zur Auswahl eines Kommissionspräsidenten geführt hat, zur guten Seite der Parteipolitisierung Europas gehört. Ich meine: Nein.

Die These, man könne das Funktionieren von Europa anhand dieses Entscheidungsverfahrens besser erklären, halte ich für völlig falsch. Wenn man das tatsächlich wollte – lassen Sie mich das schon einmal mit Blick auf die nächsten Europawahlen festhalten -, dann müssten die politischen Lager jeweils deutlich erkennbar sagen, wer ihr Kandidat oder ihre Kandidatin für das Amt des Kommissionspräsidenten ist.

Aber es kann nicht sein, dass die Parteipolitisierung im Hinterzimmer hängen bleibt; denn damit tut man Europa meines Erachtens nichts Gutes, sondern im Gegenteil sehr viel Schlechtes.Wenn man die Parteipolitisierung wirklich will, muss man entsprechende Schritte gehen. Selbstverständlich spielen dabei die unterschiedlichen Interessen der Mitgliedstaaten eine Rolle; da wird es keine Parallelität geben.

Ich denke, dass die Verfassung eine große Chance bietet, diesen Schritt zu gehen. Ob wir mit dieser Kommission und dem Europäischen Parlament tatsächlich Voraussetzungen für eine bessere Erkennbarkeit der europäischen Verantwortung und damit Identifizierbarkeit europäischer Politik schaffen können, das wird die Zukunft zeigen. Ganz gewiss aber muss der Bundestag seine inneren Verfahren ändern; denn es kommt ganz entscheidend darauf an, dass er seine Frühwarnrolle, seine Rolle in der Subsidiaritätskontrolle ernst nimmt.

Ich denke, dass auch aus dem nationalen Parlament heraus ein Politisierungsprozess stattfinden kann, der von eminenter Bedeutung ist.

Eine der Herausforderungen, die jetzt vor uns liegen, ist der Ratifikationsprozess. (…)

Ich möchte auf die Punkte zurückkommen, um die es in Zukunft gehen wird. Es gibt einen großen Konsens darüber, dass nach der Ratifizierung die Politiken im Vordergrund stehen werden. Dabei wird die Umsetzung der Lissabon-Strategie meines Erachtens von überragender Bedeutung sein.

Bei allem Respekt: Wir haben viel zu tun, auch in unserem Land. Gestern haben wir geklatscht, weil der Bundespräsident nicht Schwarzmalerei betrieben hat, sondern Probleme zwar benannt hat, aber mit dem nötigen Optimismus(…)

Man muss aber darauf hinweisen, dass wir große Anstrengungen unternommen haben und weiter unternehmen werden. Europa ist im internationalen Wettbewerb einer der wichtigsten Faktoren und wird es auch bleiben. Das auszubauen ist ein wesentliches Element der Lissabon-Strategie.

In der innenpolitischen Verengung der Diskussion bei uns wird immer so getan, als spiele die soziale Dimension keine Rolle. Ich rate dringend dazu, einmal über den Rhein zu schauen. Bei der Ratifikation durch unseren wichtigsten Partner, nämlich Frankreich, spielt das soziale Element – und zwar nicht nur in den Reihen der Linksparteien, sondern durchaus auch bei den bürgerlich-demokratischen Parteien – eine nicht unerhebliche Rolle. Wenn wir ein Interesse daran haben, die Menschen mitzunehmen, müssen wir begreifen, dass wir einerseits Wettbewerbsfähigkeit und andererseits soziale Gerechtigkeit sowie ökologische Nachhaltigkeit als Grundwerte nicht nur in der Verfassung, sondern auch in der politischen Realität verankern müssen.

Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (…):

Die EU ist durch die gemeinsame Strategie, durch die Rolle, die wir im Nahen und Mittleren Osten, in der Frage der Broader-Middle-East-Initiative und in ähnlichen Fragen bereits spielen, wesentlich besser aufgestellt, als es (hier) dargestellt wurde. Darüber hinaus ist der gemeinsame Raum des Rechts und der Sicherheit in Richtung eines Tampere II von großer Bedeutung.

Wir haben jetzt die große Chance, weitergehen zu können, weil wir garantierte Grundrechte haben. (…)

(Zur Türkei)

Jeder weiß, dass es bei der Türkei nicht darum geht, dass sie heute beitritt. (…) Unter der AKP-Regierung in der Türkei wurden gewaltige Fortschritte erzielt, angefangen bei der Umsetzung der Kopenhagener Kriterien bis – das hätte ich vorher nicht für möglich gehalten – zu einer konstruktiven Haltung im Zypernkonflikt, wodurch die Türkei zur Lösung uralter Konflikte im östlichen Mittelmeerraum beiträgt.

Nehmen Sie nur die Abschaffung der Todesstrafe und die Strafrechtsreform!

(…)

Seit Gründung der Türkischen Republik gibt es jetzt erstmals Fernsehsendungen in Minderheitensprachen, unter Einschluss der kurdischen Sprache. Die ehemaligen kurdischen Abgeordneten, die zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden, sind heute alle frei.

(…)

Es ist ein langfristiger Beitrittsprozess. Wir werden diesen Weg entschlossen weitergehen. Wir sind der Meinung, dass die für die Europäische Union entscheidende Sicherheitsfrage in diesem Raum entschieden wird. Seit Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und – das vergessen Sie immer – Franz Josef Strauß bestehen entsprechende Zusagen. Helmut Kohl, Theo Waigel und Klaus Kinkel haben diese Zusagen 1997 in Luxemburg wiederholt. Wir haben sie bestätigt und in Helsinki und in Kopenhagen operativ umgesetzt. Die Ergebnisse sind beachtlich positiv. Diesen Weg gehen wir weiter, weil wir Frieden und Stabilität in der Zukunft dieses gemeinsamen Europas für unsere Menschen wollen.

Dieses Thema wird Gegenstand von zukünftigen Diskussionen bleiben. Wahlergebnisse sind in dieser Hinsicht sehr lehrreich.

(…)

Mit der Verfassung haben wir die große Chance, das erweiterte Europa handlungsfähig zu machen.

(…)

Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wenn die Verfassung ratifiziert wird – ich bin sicher, dass sie ratifiziert wird -, haben wir die große Chance, das erweiterte Europa politisch handlungsfähig zu machen, es politisch zu integrieren und das Einigungswerk in den vor uns liegenden zwei Jahrzehnten tatsächlich zu vollenden. Damit können wir Europas Sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit sowie die Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit in einem gemeinsamen Europa mit Leben erfüllen und das große Friedenswerk Europäische Union tatsächlich vollenden.

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