Das Nein der Franzosen zur Verfassung

In Frankreich haben sich bei einer hohen Wahlbeteiligung von 69,7 % der Wahlberechtigten 55 % gegen die Annahme des Entwurfs für eine „Verfassung“ für Europa entschieden. Für die Annahme des europäischen Verfassungsenwufs stimmten 12 686 732 Franzosen, dagegen 15 422 659, also fast 2,7 Millionen mehr.

Die Kommentare – Frankreichs Entscheidung stürze die EU in eine Krise – sind gleichwohl falsch, denn die Krise war schon längst da. Das Problem liegt dabei nicht – wie Barroso meint – an der inhaltlichen Vermittlung der Verfassung, sondern daran, dass die Politik der EU nicht vermittelt werden kann. Die Bürger können mit dem Tempo der Entwicklung der EU nicht Schritt halten. Sie haben nicht den Eindruck, die Union würde für sie Vorteile bringen. Dementsprechend ist das „Non“ zu dem Verfassungsentwurf tatsächlich nur der Ausdruck der Ablehnung der Politik der EU.

Es gibt derzeit zu viele schwerwiegende Probleme innerhalb der EU. Weitere Änderungen des Projekts EU ohne dass Lösungsansätze für die Ängste auch nur erkennbar sind, sind schwer zu vermitteln. Einige Beispiele:

  • Die Osterweiterung ist noch nicht verkraftet. In den alten EU-Ländern registrieren die Bürger vor allem die niedrigeren Löhne und Steuersätze in den Beitrittsstaaten. Hier stellt sich natürlich die Frage, wieso Staaten mit extrem niedrigen Steuersätzen finanziell unterstützt werden müssen. Anstelle der EU-Förderung könnten die Staaten auch ihr Steuerdumping einstellen.
  • 2006 muss die Finanzierung der EU für 2007-20013 geregelt werden. Großbritannien erhält seit dem Beitritt einen Rabatt, der gestrichen werden soll. Spanien, Italien oder auch die ostdeutschen Bundesländer müssen um die Förderung bangen. Deutschland und die Niederlande wollen die Beiträge zur EU keinesfalls erhöhen (max. 1 %), während die Kommission mit durchschnittlich 1,14 % (Obergrenze 1,24 %) des Bruttonationaleinkommens vorgeschlagen haben.
  • Die Kommission, die im Rahmen der Globalisierung korrigierend eingreifen könnte, ist ein Vorreiter der gedankenlosen Liberalisierung. Die Dienstleistungsrichtlinie ist nur symptomatisch für das Unverständnis in der Kommission über die Ängste und Befürchtungen der EU-Bürger.
  • Im Zweifel für die Marktwirtschaft und den Wettbewerb: In dem Verfassungsentwurf kommt der Begriff „sozial“ praktisch nicht vor. Hingegen hat die Union sich zu dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet.
  • Die Europäische Union ist als Wirtschaftsgemeinschaft angetreten und wird auch so eingestuft. Allerdings ist der Unterschied zwischen den einzelnen Regionen so groß, dass von einer Gemeinschaft nicht mehr gesprochen werden kann. Die EU wird weniger als ein Raum der Gemeinsamkeiten verstanden als vielmehr eine Region verschärften Wettbewerbs zwischen den Mitgliedstaaten.

Man kann es den Wählern nicht übel nehmen, wenn sie eine Verfassung ablehnen, als deren höchstes Gut sich der freie und unverfälschte Wettbewerb darstellt. Das ist keine Verfassung, mit der man sich identifizieren kann, sondern ein internationales Wirtschaftsabkommen. Solange es der EU nicht gelingt, das eigene Image bei den EU-Bürgern zu verbessern, wird es sehr schwer bleiben, eine Zustimmung zu bekommen. Und zur Imageverbesserung genügt bloße Pressearbeit nicht, wenn keine erkennbaren Ergebnisse vorliegen.


Gemeinsame Erklärung des Präsidenten des Europäischen Parlaments, Josep Borrell Fontelles, des Präsidenten des Europäischen Rats, Jean-Claude Juncker und des Präsidenten der Europäischen Kommission, José Manuel Barroso zu den Ergebnissen des französischen Referendums über die Europäische Verfassung:

„Die französischen Wähler haben heute, am Sonntag den 29. Mai entschieden, Nein zur Europäischen Verfassung zu sagen. Wir nehmen das zur Kenntnis.

Wir bedauern diese Wahl, die von einem Mitgliedstaat getroffen wurde, der in den letzten 50 Jahren einer der Motoren für unsere gemeinsame Zukunft war.

Wir akzeptieren die demokratische Entscheidung, die nach intensiver Debatte getroffen wurde. Das Ergebnis des französischen Referendums bedarf einer tiefen Analyse zunächst auf Seiten der französischen Regierung. Die europäischen Institutionen der Europäischen Union sollten ihrerseits über die Ergebnisse des gemeinsamen Ratifizierungsprozesse nachdenken.

Es ist wichtig sich daran zu erinnern, dass neun Mitgliedstaaten, die nahezu die Hälfte (49%) der europäischen Bevölkerung repräsentieren, die Europäische Verfassung bereits ratifiziert haben – in einem Fall auf der Basis eines breiten positiven Referendums. Die Mehrheit der Mitgliedstaaten hatte bisher noch nicht die Möglichkeit, den Ratifizierungsprozess abzuschließen.

Der Tenor der Debatte in Frankreich und das Ergebnis des Referendums bestärken uns in unserer Auffassung, dass nationale und europäische Politiker verstärkt erklären müssen, was auf dem Spiel steht und auf welche Fragen nur Europa Antworten geben kann. Wir glauben weiterhin, dass Antworten auf der europäischen Ebene die besten und effektivsten in Anbetracht der globalen Entwicklung bleiben.

Wir müssen uns fragen, wie jeder von uns – nationale Regierungen, Europäische Institutionen, politische Parteien, soziale Partner, die Zivilgesellschaft – dazu beitragen können, dieses Projekt zu unterstützen, dass ohne seine Bürger keine eigene Legitimation besitzt.

Die Weiterentwicklung Europas ist, aus der Natur der Sache heraus, komplex. Europa hat bereits schwierige Moment durchlebt: Jedes Mal ist es gestärkt aus diesen Situationen hervorgegangen, stärker als vorher und bereit, sich den Herausforderungen und der Verantwortung zu stellen. Heute geht Europa weiter und seine Institutionen funktionieren vollständig. Wir sind uns der Schwierigkeiten bewusst, aber wir haben Vertrauen, dass wir Wege finden werden, die Europäische Union vorwärts zu führen. Wir sind entschlossen, gemeinsam hierzu beizutragen.“

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