Zwei Mal „Nein“ zum europäischen Verfassungsvertrag

Mit den Niederlanden hat die Bevölkerung eines zweiten Mitgliedstaates den Entwurf für den europäischen Verfassungsvertrag abgelehnt. Bei einer unerwartet hohen Wahlbeteiligung von 62,8 Prozent stimmten 61,6 gegen das Vertragswerk und nur 38,4 dafür. Auch hier dürften die Gründe nicht in der Ablehnung des Verfassungstext als solchem zu suchen sein, sondern Ausdruck der allgemeinen Missbilligung der Entwicklung der Europäischen Union.

Das Projekt »Verfassung« wurde gestartet, um den Bürgern Europa, die Europäische Union, näher zu bringen. Nach den Abstimmungen in den Gründungsmitgliedern Niederland und Frankreich gerät es zu einem vollständigen Bumerang. Europa hat sich in den Augen der Bürger von einem Zweckbündnis zu einem Ärgernis entwickelt. Die Politiker reagieren teils hilflos mit einem „trotzdem“ — und die Medien beginnen bereits unsinnige und gefährliche Begräbnisreden auf die EU und den Euro zu veröffentlichen. Die Probleme in dem Verfassungstext werden kaum diskutiert, weil weder die Bürger noch die Journalisten den Text kennen. Und verfolgt man Interviews oder Diskussionsrunden, bekommt man den Eindruck, dass viele Politiker auch keine Ahnung von dem Thema haben, über das sie parlieren. Tatsächlich haben sich lediglich die Befürchtungen, die bspw. auch hier bei FiFo Ost bereits vor einem Jahr geäußert wurden, verwirklicht.

Der Begriff Verfassung ist ein Euphemismus, da es sich wie schon zuvor um einen „Vertrag“ zwischen den Mitgliedstaaten handelt. Die Verfassung ist zu lang, zu technisch. Der Entwurf für die Verfassung der Europäischen Union ist mit 464 Artikeln (rd. 300 Seiten Text) sehr lang, ein Buch. Der Stil der europäischen Verfassung ist trocken und bürokratisch. Integrative Kraft oder Identifikation mit Europa – die man sich von der „Verfassung“ erhoffte – wird von diesem Buch kaum ausgehen können.

Bei der Beurteilung des Verfassungsentwurfs wird gerne übersehen, dass er

  • dem EU-Parlament mehr Macht gibt,
  • einen Grundrechtskatalog einführt,
  • versucht, eine klarer Aufgabentrennung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten zu etablieren,
  • die Subsidiaritätskontrolle und die Subsidiaritätsklage einführt,
  • oder bspw. über ein Bürgerbegehren die Einbringung von Gesetzesvorschläge erlaubt,

und so einige Kritikpunkte an der aktuellen Situation der EU aufgreift. Bei all dem Jubel über die ablehnenden Ergebnisse der Referenden gerät völlig in Vergessenheit, dass Europa dringend eine neue Struktur braucht und der unbefriedigende Nizza-Kompromiss abgelöst wird.

Eines der größten Probleme der Europäischen Union dürfte die Tatsache sein, dass die Union als Mittel zur politischen Stabilisierung und Friedenserhaltung ins Spiel gebracht wird. Die Politik der europäischen Erweiterung war immer Bestandteil europäischer Friedenspolitik. Das Instrumentarium der Union beschränkt sich aber im wesentlichen auf die wirtschaftliche Liberalisierung. Dies mag noch funkioniert haben, als die EU im wesentlichen aus wirtschaftlich gleichstarken Mitgliedstaaten bestand.

Richtig ist sicherlich auch, dass der EU-Beitritt bzw. die Aussicht auf einen Beitritt in den Transformationsstaaten zur Demokratisierung und der politischen Stabilisierung beigetragen hat. Es mag sein, dass mit dem Beitritt die Korruption in Tschechien zurückgegangen ist, dass einige schädliche Praktiken in Steueroasen wie Malta eingestellt wurden oder dass Umweltschutzbemühungen in den Beitrittstaaten gestiegen sind. Die EU vermittelt gleichwohl keineswegs den Eindruck einer Gemeinschaft. Vielmehr stehen sich Arbeitnehmer im Kampf um den Arbeitsplatz, Unternehmen im Kampf um Aufträge und Staaten im Kampf um Steuereinnahmen viel direkter gegenüber, als dies jemals der Fall war. Und die EU sorgt dafür, dass mit offenem Visier und ohne Schutzschild gekämpft wird.

Mit der Osterweiterung bekommen die EU-Bürger erstmals massiv zu spüren, welche — auch nachteilige — Folgen mit der wirtschaftlichen Liberalisierung eintreten. Diese stellt nämlich keineswegs ein Einbahnstraße zu mehr Wohlstand, erst Recht keine Garantie für eine befriedigende Verteilung der wirtschaftlichen Ergebnisse dar.

In den Beitrittstaaten fallen die staatlichen sozialen Leistungen oft genug sehr bescheiden aus, das Statsdefizit nimmt vergleichsweise schnell zu, die Staaten locken Unternehmen mit Steuersätzen von unter 20 % an, während die Mehrwertsteuer mit 22–25 % (Polen, Tschechien, Ungarn) relativ hoch ist. Es entsteht der Eindruck, dass die niedrigen Steuersätze über Zuschüsse durch die EU teilweise finanziert werden, um so Unternehmen zur Abwanderung aus den alten Mitgliedstaaten zu bewegen.

Damit steigt der Druck zur Senkung der Steuern in den alten Mitgliedstaaten, die aber finanziell oft an er Grenze der Belastbarkeit sind. Die Einführung von Mindeststeuern in der EU ist aber mehrfach gescheitert. 1975 wurde bspw. in der EU die Einführung einer Mindeststeuer mit Körperschaftsteuersätzen von 45–55 % vorgeschlagen. Noch 1992 lautete der Vorschlag im Ruding-Report 30 % als Mindeststeuersatz. Inzwischen gewinnt man den Eindruck, dass die Unternehmenssteuer EU-weit sich auf dem niedrigsten Niveau von 10–12,5 % (das sind aktuelle die Steuersätze in Irland) einpendeln werden. Aufgrund der offenen Grenzen lässt sich das Kapital kaum von einzelnen Straaten im Alleingang höher besteuern, denn dann flieht das Kapital sofort in das nächste Land, dass aktuell den günstigeren Steuersatz anbietet.

Wenn die Unternehmen immer weniger zur Finanzierung des Staates beitragen, trifft es diejenigen, die nicht ins Ausland ausweichen können (das sind in der Regel die Arbeitnehmer) um so mehr. Gleichzeitig sehen diese sich in unmittelbarerer Konkurrenz zu Arbeitnehmern aus den Beitrittstaaten, die nur einen Bruchteil des eigenen Einkommens haben. Dementsprechend werden Forderungen nach einen Ausgleich mit Hinweis auf Niedriglohnländer abgeschmettert. Vor allem zeigt das Beispiel Ostdeutschland, dass es sehr lange dauern kann, bis die Beitrittstaaten sich weitgehend angenähert haben. Arbeitsplatzverlust, Ängste um den Arbeitsplatz, geringere Einkommen und andere Einschnitte werden oft genug der EU zugeschrieben.

In dem Entwurf ist eine sehr liberale Wirtschaftsverfassung verankert. Dass der ständige Wettbewerb der Weisheit letzter Schluss ist, wird von kaum jemanden behauptet. Insolvenzen, Entlassungen, Übernahmen, Senkung des Arbeitsentgelts, längere Arbeitszeiten, Senkung der Ausgaben für Umweltschutz, Senkung der Ausgaben für hochwertige, gesunde Produkte etc. sind immanenter Bestandteil der liberalen Wirtschaftsauffassung. Wenn in der Verfassung korrigierende Elemente fehlen, öffnet dies zu viele Möglichkeiten des unlauteren Wettbewerbs zwischen Staaten. Subventionsmöglichkeiten drastisch zu beschränken, zugleich aber die mittelbare Subventionierung über die Steuergestaltung fast unkontrolliert zu erlauben — das wirft Zweifel auf. Der Wettbewerb zwischen den Staaten, der durch die EU massiv verstärkt wurde, funktioniert dann nicht, wenn es noch keine angemessene Wettbewerbsordnung gibt. Kleinstaaten wie Luxemburg, Zypern, Malta und die drei baltischen Staaten haben zusammen nicht einmal so viele Einwohner wie die Hauptstadt Großbritannniens. Die kleineren Staaten agieren mit ganz anderen Mitteln als die großen Industriestaaten.

Auf dieses — zumindest aus Sicht der Indutriestaaten — bedeutsames Problem gibt es bislang keine Antwort. Nur zuzusehen, wie internationale Konzerne über die typischen Steuergestaltungsmöglichkeiten sich weitgehend aus der Finanzierung der Gemeinschaftsaufgaben verabschieden und die Arbeitnehmer und KMU die Last tragen, ist keine Lösung.

Ob die jetzt verbrannte Verfassung sich nochmals durchsetzen lassen wird, ist zweifelhaft. Ein einfaches »Weiter wie bisher« ist nicht möglich. Das gebietet der Respekt vor den Entscheidungen in Frankreich und den Niederlanden. So können die Voten insbesondere dazu dienen, einzuhalten und die weitere Entwicklung der EU nochmals zu überdenken.

Wenn die Bürger sich mit der Verfassung indentifizieren sollen, so muss diese inhaltlich reduziert und verständlicher werden. Der Wettbewerb zwischen den Bürgern, den Regionen und Staaten darf nicht mehr das faktisch höchste Gut der Verfassung sein. Die EU gilt als bürokratisch, regelungswütig, bürgerfern und technokratisch. All diese Atribute sind negativ besetzt. Und der Konvent, der sich dessen bewusst ist, präsentiert eine Verfassung mit folgenden Eigenschaften: bürokratisch, regelungswütig, bürgerfern und technokratisch. Durch solche Maßnahmen bleibt Europa ein Ort der Politiker, der Lobbyisten, der Unternehmen und Bürokraten.

Bei der Verfassung sind die Gemeinsamkeiten viel mehr in den Vordergrund zu stellen. Europa hat viel zu bieten, viel mehr, als den meisten bewußt ist.

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