EuHG erklärt einmal mehr nationale Steuervorschriften für rechtswidrig

Während man bis vor wenigen Jahren Entscheidungen des EuGH zu direkten Steuern noch mit der Lupe suchen musste und alle fünf Jahre einmal zu einer steuerlichen Frage Stellung genommen wurde, hat sich ab 1999/2000 das Bild gewandelt (Entscheidungen „Safir“, „Saint-Gobain“, „Verkooijen“, „Lankhorst Hohorst“). Dem EuGH werden nunmehr regelmäßig von den Finanzgerichten steuerliche Fragen vorgelegt – und wer bei diesen Entscheidungen eine Wette auf den Steuerzahler abgeschlossen hat, hatte zumeist gewonnen.

Die Beschränkung der Abzugsfähigkeit der mit der Beteiligung einer in den Niederlanden ansässigen Muttergesellschaft am Kapital einer in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Tochtergesellschaft zusammenhängenden Kosten stellt eine nicht gerechtfertigte Einschränkung der Niederlassungsfreiheit dar.

Das Gemeinschaftsrecht verbietet Beschränkungen der freien Niederlassung von nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats. Dieses Verbot gilt nunmehr auch für Beschränkungen der Errichtung von Tochtergesellschaften. Das niederländische Körperschaftsteuergesetz erlaubt den Gesellschaften den Abzug der mit einer Beteiligung zusammenhängenden Kosten von ihrem Gewinn, wenn diese Kosten mittelbar der Erzielung von in den Niederlanden steuerpflichtigem Gewinn dienen.

Die Bosal Holding BV ist eine niederländische Gesellschaft, die Holding-, Finanzierungs- und Lizenzgeschäfte betreibt und in den Niederlanden der Körperschaftsteuer unterliegt. In ihrer Steuererklärung für das Jahr 1993 meldete sie im Zusammenhang mit der Finanzierung ihrer Beteiligungen an in neun anderen Mitgliedstaaten niedergelassenen Gesellschaften Kosten in Höhe von 3 969 339 NLG (1 801 287 EUR) an. In Ergänzung zu dieser Steuererklärung beantragte sie den Abzug dieser Kosten von ihrem eigenen Gewinn.

Der Inspecteur van de Belastingdienst (Finanzamt) lehnte die Gewährung des beantragten Abzugs ab. Seine Auffassung wurde vom Gerechtshof Arnheim, bei dem Bosal Klage gegen die Zurückweisung ihres Einspruchs erhoben hatte, bestätigt. Der Hoge Raad der Nederlanden, bei dem Bosal Kassationsbeschwerde einlegte, hat den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften gefragt, ob das Gemeinschaftsrecht der niederländischen Regelung entgegensteht.

Der Gerichtshof stellt fest, dass die nach der niederländischen Regelung vorgesehene Beschränkung ein Hemmnis für die Errichtung von Tochtergesellschaften in anderen Mitgliedstaaten darstellt und damit dem Gemeinschaftsrecht zuwiderläuft. Eine Muttergesellschaft könnte nämlich davor zurückschrecken, ihre Tätigkeiten über eine in einemanderen Mitgliedstaat niedergelassene Tochtergesellschaft auszuüben, da solche Tochtergesellschaften gewöhnlich keine in den Niederlanden steuerpflichtigen Gewinne erzielen.

Die niederländische Regierung hat drei Gründe geltend gemacht, um die streitigen Vorschriften zu rechtfertigen:

  1. das Erfordernis, die Kohärenz des niederländischen Steuersystems zu wahren;
  2. ein auf das Territorialitätsprinzip gestütztes Argument: die Tochtergesellschaften, die in den Niederlanden steuerpflichtige Gewinne erzielten, und diejenigen, die dies nicht täten, befänden sich nicht in einer vergleichbaren Situation;
  3. das Erfordernis, die Besteuerungsgrundlage des Mitgliedstaats zu erhalten.

Der Gerichtshof weist dieses Vorbringen zurück.

Zum Erfordernis, die Kohärenz des niederländischen Steuersystems zu wahren, erinnert der Gerichtshof daran, dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Gewährung eines Steuervorteils und dem Ausgleich dieses Vorteils durch eine steuerliche Belastung bestehen muss, die im Rahmen einer einzigen Besteuerung erfolgen. In der vorliegenden Rechtssache fehlt es jedoch an einem unmittelbaren Zusammenhang zwischen der steuerlichen Vergünstigung, die den in den Niederlanden ansässigen Muttergesellschaften gewährt wird, und der Besteuerung der Tochtergesellschaften von Muttergesellschaften, wenn diese in diesem Mitgliedstaat niedergelassen sind. Mutter- und Tochtergesellschaften sind nämlich verschiedene juristische Personen, die jeweils einer eigenen Besteuerung unterliegen. Im Übrigen wird die Beschränkung der Abzugsfähigkeit der Beteiligungskosten nicht durch einen entsprechenden Vorteil ausgeglichen. Die Kohärenz des niederländischen Steuersystems kann daher nicht mit Erfolg geltend gemacht werden.

Zu dem auf das Territorialitätsprinzip gestützten Argument stellt der Gerichtshof fest, dass die Muttergesellschaften im vorliegenden Fall in Abhängigkeit davon steuerlich unterschiedlich behandelt werden, ob sie Tochtergesellschaften besitzen, die in den Niederlanden steuerpflichtige Gewinne erzielen, auch wenn alle diese Muttergesellschaften in diesem Mitgliedstaat niedergelassen sind.

Zum Erfordernis, die Besteuerungsgrundlage des Mitgliedstaats zu erhalten, verweist der Gerichtshof darauf, dass das Erfordernis, eine Verringerung des Steueraufkommens zu vermeiden, kein Grund ist, der eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit rechtfertigen kann.

Kurzkommentar

Die Niederlassungsfreiheit entwickelt sich in der Rechtsprechnung des EuGH immer mehr zu einem zu dem größten EU-rechtlich gewährleisteten Schlupfloch für Steuerumgehung. Aufgrund der Centros- und Überseeringrechtsprechung werden liechtensteinische Domizilgesellschaften anerkannt. Nachdem der EuGH die Regelungen auch über unterkapitalisierte Tochtergesellschaften (thin capitalization, ein allgemein – auch von der OECD – anerkanntes Prinzip zum Schutz vor der Verlagerung von Gewinnen in ein Niedrigsteuerland) für rechtswidrig erklärt hat (soweit es nur für ausländische Gesellschafter gilt – wie etwa im deutschen Körperschaftsteuergesetz), wird so eine weitere Möglichkeit eröffnet, durch geschickte Gestaltungen die Gewinne in Hochsteuerländern zu reduzieren.

Soviel Sinn die Niedelassungsfreiheit in vielen Bereichen hat — solange die Mitgliedstaaten keine geeigneten Mittel gegen Steuerumgehung an der Hand haben, werden solche Entscheidungen für viel Unmut sorgen. Das Kapital wird sich immer mehr von den Produktionsstätten und Absatzmärkten weg in Niedrigsteuerländer verlagern. Die Leidtragenden werden die Arbeitnehmer, Angestellten und örtlich wenig flexiblen KMUs sein.

Die wichtigsten EuGH-Urteile zum Thema Unternehmensteuern:

28.01.1986 (270/83 – Kommission gegen Frankreich – Avoir fiscal), EuGH Slg. 1986, S. 273

27.09.1988 (81/87 – Daily Mail (UK)), EuGH Slg. 1988, S. 5505 

13.07.1993 (C-330/91 – Commerzbank (UK)), EuGH Slg. 1993, S. I-4017 12.04.1994 

12.04.1994 (C-1/93 – Halliburton (NL)), EuGH Slg. 1994, S. I-1137 

14.11.1995 (C-484/93 – Svensson & Gustavsson (L)), EuGH Slg. 1995, S. I-3955, 3971

27.06.1996 (C-107/94 – Asscher (NL)), EuGH Slg. 1996, S. I-3089, 3113, GenAnw Léger 3091

17.10.1996 (C-283/94 – Denkavit, C-291/94 – VITIC, C-292/94 – Voormeer (D)), EuGH Slg. 1996, S. I-5063

15.05.1997 (C-250/95 – FUTURA (L)), EuGH Slg. 1997, S. I-2471 

17.7.1997 (C-28/95 – Leur-Bloem (NL)), EuGH Slg. 1997, S. I-4161 

28.4.1998 (C-118/96 – Jessica Safir (S)), EuGH Slg. 1998, S. I-1897, 1919 

12.5.1998 (C-336/96 – Gilly (F)), EuGH Slg. 1998, S. I-2823

16.7.1998 (C-264/96 – ICI (UK)), EuGH Slg. 1998, S. I-4711 (GenAnw Tesauro I-4698)

09.03.1999 (C-212/97 – Centros (DK)), GenAnw La Pergola 16.7.1999, EuGH Slg. 1999, S. I-1459, 1484

29.04.1999 (C-311/97 – Royal Bank of Scotland (EL), GenAnw Alber 19.11.1998, EuGH Slg., S. I-2651,2664

08.07.1999 C-254/97 – axter v. France), GenAnw Saggio, EuGH 1999, S. I-4811, 4824

14.09.1999 (C-275/97 – DE+ ES (D)), GenAnw Léger 26.11.1998, EuGH Slg. 1999, S.I-5334, 5347 

21.09.1999 (C-307/97 – Saint-Gobain (D)) (ABl. C 318 18.10.1997 S.11), GenAnw Mischo. 02.03.1999, EuGH Slg. 1999, S. I-6163, 6181 

26.10.1999 (C-294/97 – Eurowings (D) (ABl. C 295 27.09.1997 S.25), Schlussantrag: GenAnw Mischo 26.01.1999, EuGH Slg. 1999, S. I- 7449, 7463

28.10.1999 (C-55/98 – Bent Vestergaard (DK) ), Schlussantrag: GenAnw Saggio 
10.06.1999, EuGH Slg. 1999, S. I-7643, 7657

18.11.1999 (C-200/98 – X AB und Y AB gegen Riksskatteverk(S)), Berichterstatter: Edwards, Schlussantrag: GenAnw Saggio 03.06.1999, EuGH 1999, S. I-8264, 8276 

13.04.2000 (C-251/98 – Baars (NL), ABl. C 192, 8.7.2000, S. 4, EuGH Slg. 2000 S. I-2787, 2805 Berichterstatter: Wathelet, Anhörung 24.6.99, Schlussantrag: GenAnw Alber 14.10.99 

06.06.2000 (C-35/98 – B.G.M. Verkooyen (NL), ABl. C 247 26.08.2000 S.5 , EuGH Slg. 2000 S. I-4073,4109,4113, Berichterstatter: Wathelet, Schlussantrag: GenAnw La Pergola 24.6.1999, erneute Anhörung 30.11.1999, 2. Schlussantrag 14.12.1999 

08.06.2000 (C-375/98 -EPSON Europe BV (P)), ABl. C 273 23.09.2000 S. 2 ; EuGH 2000, S. I-4245, 4263 ; Fünfte Kammer, Anhörung 16.12.99, Schlussantrag: GenAnw Cosmas 17.2.2000

14.12.2000 (C-141/99 – AMID (B) , Anhörung 13.04.2000, Schlussantrag: Alber 
8.6.2000, ABl. C 150 19.05.2001 S.2 2001 p.2 

08.03.2001 (C-397/98 – Metallgesellschaft Ltd. gegen The Commissioners of Inland Revenue (UK) und C-410/98 – Hoechst gegen Inland Revenue Commissioners (UK) Fünfte Kammer, Berichterstatter: Wathelet, Schlussantrag: GenAnw Fennelly 12.09.2000; ABl. C 173 16.06.2001 S.13  

04.10.2001 (C-294/99 – Athinaiki Zythopoiia gegen den Griechischen Staat), Berichterstatter: Wathelet, Schlussantrag: GenAnw Alber 10.5.2001

15.01.2002 (C-43/2000 – Andersen og Jensen ApS / Skatteministeriet) 

12.12.2002: (C-324/00: Lankhorst-Hohorst GmbH v Finanzamt Steinfurt)


Urteil des Gerichtshofes im Vorabentscheidungsverfahren C-168/01
Bosal Holding BV / Staatssecretaris van Financiën

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