Anwartschaften auf Versicherungsrente während des Mutterschaftsurlaubs

Nach einer Entscheidung des EuGH steht die deutsche Regelung, wonach Arbeitnehmerinnen während des teilweise vom Arbeitgeber bezahlten gesetzlichen Mutterschaftsurlaubs keine Anwartschaften auf eine Versicherungsrente erwerben, im Widerspruch zu der EU-Regelung über die Gleichbehandlung von Männern und Frauen bei den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit.

Das Ausgangsverfahren und die Vorlagefragen

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Frau Mayer, die heute als selbständige Rechtsanwältin tätig ist, war vom 1. Januar 1990 bis zum 30. September 1999 als Angestellte im öffentlichen Dienst des Bundeslandes Rheinland-Pfalz beschäftigt und bei der VBL pflichtversichert. Sie befand sich vom 16. Dezember 1992 bis zum 5. April 1993 und vom 17. Januar bis zum 22. April 1994 im gesetzlichen Mutterschutz.

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Die Höhe der Versicherungsrente für Versicherte in einer Situation wie derjenigen der Klägerin ergibt sich nach § 44 Absatz 1 Satz 1a der Satzung der VBL aus einem bestimmten Vomhundertsatz der zusatzversorgungspflichtigen Entgelte, von denen Umlagen entrichtet worden sind. Nach § 29 Absatz 1 der genannten Satzung hat der Arbeitgeber eine monatliche Umlage in Höhe eines bestimmten Teils des zusatzversorgungspflichtigen Entgelts zu zahlen. Dieses Entgelt ist nach § 29 Absatz 7 der steuerpflichtige Arbeitslohn.

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Während ihrer Mutterschutzzeiten bezog die Klägerin, die privat krankenversichert war, das staatliche Mutterschaftsgeld nach § 13 Absatz 2 des Mutterschutzgesetzes und den vom Arbeitgeber zu leistenden Zuschuss zum Mutterschaftsgeld in Höhe der Differenz zwischen dem staatlichen Mutterschaftsgeld und dem letzten Nettoarbeitsentgelt gemäß § 14 Absatz 1 des Mutterschutzgesetzes. Diese Leistung des Arbeitgebers ist nach § 3 Absatz 1 Buchstabe d des Einkommensteuergesetzes steuerfrei. Somit hat die Klägerin während ihrer Mutterschutzzeiten kein zusatzversorgungspflichtiges Entgelt im Sinne von § 29 Absatz 7 der Satzung der VBL bezogen, für das ihr Arbeitgeber gemäß § 29 Absatz 1 dieser Satzung monatliche Umlagen hätte zahlen müssen. Infolgedessen berücksichtigte die VBL bei der Berechnung der Versicherungsrente der Klägerin die Leistungen nicht, die sie von ihrem Arbeitgeber während der Mutterschutzzeiten bezog.

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Die Klägerin beantragte, ihre Mutterschutzzeiten bei der Berechnung der Anwartschaft auf die Versicherungsrente, die sie in dem von der VBL verwalteten Zusatzversorgungssystem erworben hatte, zu berücksichtigen.

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Die mit dem Rechtsstreit befassten Gerichte wiesen die Klage der Klägerin gegen die VBL ab. Sie legte daraufhin Revision beim Bundesgerichtshof ein und regte an, die Sache dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorzulegen.

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Der Bundesgerichtshof hat in Betracht gezogen, dass Artikel 11 Nummer 2 Buchstabe a der Richtlinie 92/85 auf den vorliegenden Fall angesichts dessen keine Anwendung finde, dass die letzte Mutterschutzzeit der Klägerin vor Ablauf der den Mitgliedstaaten für die Umsetzung dieser Richtlinie gesetzten Frist geendet habe. Das vorlegende Gericht neigt zu der Ansicht, dass es jedoch gegen den von der Richtlinie 86/378 in der durch die Richtlinie 96/97 geänderten Fassung, insbesondere deren Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe g, aufgestellten Grundsatz der Gleichbehandlung verstoße, dass die Zeiten des Mutterschaftsurlaubs der Klägerin nicht berücksichtigt worden seien. Ferner könne auch ein Verstoß gegen Artikel 119 EG-Vertrag vorliegen, der den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit aufstelle.

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Da der Bundesgerichtshof der Ansicht ist, dass die nationale Regelung möglicherweise mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar ist, hat er das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Stehen Artikel 119 EG-Vertrag und/oder Artikel 11 Nummer 2 Buchstabe a der Richtlinie 92/85 und Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe g der Richtlinie 86/378, neu gefasst durch die Richtlinie 96/97, Satzungsbestimmungen eines Zusatzversorgungssystems der hier vorliegenden Art entgegen, nach denen eine Arbeitnehmerin während des gesetzlichen Mutterschaftsurlaubs (hier: vom 16. Dezember 1992 bis 5. April 1993 sowie vom 17. Januar bis 22. April 1994) keine Anwartschaften auf eine im Fall ihres vorzeitigen Ausscheidens aus der Pflichtversicherung ab Eintritt des Versicherungsfalls (Rentenalter, Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit) monatlich zu beanspruchende Versicherungsrente erwirbt, weil die Entstehung solcher Anwartschaften davon abhängt, dass ein Arbeitnehmer im jeweiligen Zeitabschnitt steuerpflichtigen Arbeitslohn erhält, die der Arbeitnehmerin während des Mutterschaftsurlaubs zufließenden Leistungen nach den nationalen Bestimmungen jedoch keinen
steuerpflichtigen Arbeitslohn darstellen?

2.

Gilt dies insbesondere, wenn man berücksichtigt, dass die Versicherungsrente nicht — wie die beim Verbleib in der Pflichtversicherung im Versicherungsfall zu leistende Versorgungsrente — der Absicherung der Arbeitnehmerin im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit dient, sondern die während der Zeit der Pflichtversicherung für sie geleisteten Beiträge abgelten soll?

Zu den Vorlagefragen

Vorbringen der Beteiligten

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Die Klägerin beschränkt sich darauf, auf den Vorlagebeschluss zu verweisen, dessen Inhalt in Randnummer 19 des vorliegenden Urteils zusammengefasst ist.

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Die VBL macht geltend, dass die Bestimmungen des Zusatzversorgungssystems, nach denen eine Arbeitnehmerin während der gesetzlichen Mutterschutzzeit keine Anwartschaften auf eine Versicherungsrente erwerbe, nicht gegen das Gemeinschaftsrecht verstießen. Die Versicherungsrente diene nicht der Absicherung des Versicherten im Alter oder bei Erwerbsunfähigkeit. Ihr Zweck erschöpfe sich vielmehr darin, dem aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidenden Arbeitnehmer einen versicherungstechnischen Gegenwert für die geleisteten Beiträge zu gewähren. Die Anwartschaft auf eine Versicherungsrente werde von der Richtlinie 86/378 in der durch die Richtlinie 96/97 geänderten Fassung nicht erfasst, die nach ihrer Intention der Vermittlung des Grundsatzes der Gleichbehandlung bei betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit dienen wolle. Die Richtlinie 92/85 sei nicht anwendbar, denn die den Mitgliedstaaten für deren Umsetzung gesetzte Frist sei
während der Zeit des dem Ausgangsverfahren zugrunde liegenden Sachverhalts noch nicht abgelaufen gewesen. Daher habe die VBL darauf vertrauen dürfen, für die Mutterschutzzeiten der Arbeitnehmerinnen keine zusätzlichen Leistungen erbringen zu müssen. Schließlich sei die eingeführte Regelung auch mit Artikel 119 EG-Vertrag vereinbar, da es sich um Modalitäten der Finanzierung eines betrieblichen Versorgungssystems mit feststehenden Leistungen handele, die nicht in den Anwendungsbereich dieses Artikels fielen.

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Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften macht entgegen der VBL geltend, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Zusatzversorgungssystem nicht mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sei. Artikel 11 Nummer 2 Buchstabe a der Richtlinie 92/85 stehe einer nationalen Regelung wie § 29 Absatz 7 der Satzung der VBL entgegen, die den Erwerb von Anwartschaften auf eine Betriebsrente von der Art der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Versicherungsrente während des gesetzlichen Mutterschaftsurlaubs davon abhängig mache, ob und in welchem Umfang eine Arbeitnehmerin in diesem Zeitraum ein zusatzversorgungspflichtiges Entgelt erhalte. Der Umstand, dass die Frist für die Umsetzung dieser Richtlinie während der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Mutterschutzzeiten noch nicht abgelaufen gewesen sei, sei unerheblich, denn auch die vor dem Ablauf dieser Frist liegenden Mutterschutzzeiten müssten unabhängig davon, wann sie in Anspruch
genommen worden seien, als solche berücksichtigt werden. Für den Fall, dass sich der Gerichtshof dieser Auslegung von Artikel 11 Nummer 2 Buchstabe a der Richtlinie 92/85 nicht anschließen sollte, trägt die Kommission vor, dass Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe g der Richtlinie 86/378 in der durch die Richtlinie 96/97 geänderten Fassung der fraglichen nationalen Regelung entgegenstehe, soweit Mutterschutzzeiten vor Ablauf der Frist für die Umsetzung der Richtlinie 92/85 betroffen seien. Es erübrige sich, das Problem im Rahmen von Artikel 119 EG-Vertrag zu prüfen.

Würdigung durch den Gerichtshof

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Die beiden Vorlagefragen sind gemeinsam zu prüfen.

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Nach Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie 96/97 muss jede Maßnahme zur Umsetzung dieser Richtlinie in Bezug auf die unselbständig Erwerbstätigen alle Leistungen abdecken, die für Beschäftigungszeiten nach dem 17. Mai 1990 gewährt werden.

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Die Mutterschutzzeiten, um die es im Ausgangsverfahren geht, wurden nach diesem Zeitpunkt, nämlich 1992, 1993 und 1994, in Anspruch genommen. Daher ist die Richtlinie 86/378 in der durch die Richtlinie 96/97 geänderten Fassung in Bezug auf die Berücksichtigung solcher Zeiten für die Zwecke der Berechnung der entsprechenden Anwartschaftszeiten anzuwenden.

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Nach Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe g der Richtlinie 86/378 in der durch die Richtlinie 96/97 geänderten Fassung gehören zu den dem Grundsatz der Gleichbehandlung entgegenstehenden Bestimmungen solche, die sich unmittelbar oder mittelbar auf das Geschlecht stützen und die Unterbrechung der Aufrechterhaltung oder des Erwerbs von Ansprüchen während eines gesetzlich oder tarifvertraglich festgelegten Mutterschaftsurlaubs oder Urlaubs aus familiären Gründen, der vom Arbeitgeber bezahlt wird, bewirken.

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Die Ansprüche, auf die sich Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe g der Richtlinie bezieht, umfassen die Anwartschaften auf künftige Renten, deren Erwerb durch die Anwendung nationaler Bestimmungen über den Mutterschaftsurlaub unterbrochen werden könnte.

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Dem Vorbringen der VBL, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Versicherungsrente nicht von der Richtlinie 86/378 in der durch die Richtlinie 96/97 geänderten Fassung erfasst werde, da ihr Sinn und Zweck darin bestehe, eine versicherungstechnische Gegenleistung für entrichtete Beiträge zu schaffen, und nicht in einer Absicherung im Alter oder bei Erwerbsunfähigkeit, kann nicht gefolgt werden. Denn es ergibt sich aus allen Angaben des Vorlagebeschlusses zu dieser Versicherungsrente, dass diese Teil einer Zusatzversorgungsregelung ist und den betroffenen Arbeitnehmern eine Leistung beim Eintritt des Risikos Alter oder Erwerbsunfähigkeit gewährleisten soll. Eine solche Versicherungsrente stellt damit eine Zusatzleistung dar, die in den durch die Artikel 2 und 4 der genannten Richtlinie festgelegten Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt und nicht unter den von dieser Richtlinie vorgesehenen Ausschlusstatbeständen aufgeführt
ist.

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Die Zeiten des Mutterschutzurlaubs im Sinne von Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe g der Richtlinie 86/378 in der durch die Richtlinie 96/97 geänderten Fassung sind diejenigen, die gesetzlich oder tarifvertraglich festgelegt sind und vom Arbeitgeber bezahlt werden.

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Nach dem Vorlagebeschluss erhielt die Klägerin während ihrer Zeiten des Mutterschaftsurlaubs neben dem staatlichen Mutterschaftsgeld gemäß § 13 Absatz 2 des Mutterschutzgesetzes den in § 14 Absatz 1 dieses Gesetzes vorgesehenen Zuschuss in Höhe der Differenz zwischen dem Mutterschaftsgeld und ihrem letzten Nettoarbeitsentgelt. Ihre Mutterschutzzeiten wurden somit teilweise von ihrem Arbeitgeber bezahlt. Dies genügt für die Annahme, dass der Urlaub im Sinne von Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe g der Richtlinie vom Arbeitgeber bezahlt wurde.

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Nach allem steht Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe g der Richtlinie 86/378 in der durch die Richtlinie 96/97 geänderten Fassung einer nationalen Regelung wie § 29 Absatz 7 der Satzung der VBL entgegen, die die Unterbrechung des Erwerbs der Anwartschaften auf eine Versicherungsrente während der Zeiten des gesetzlichen Mutterschaftsurlaubs durch die Aufstellung der Voraussetzung bewirkt, dass die Arbeitnehmerin während dieser Urlaubszeiten steuerpflichtigen Arbeitslohn bezieht.

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Die Richtlinie 92/85 braucht nicht geprüft zu werden, da die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zeiten des Mutterschaftsurlaubs vor Ablauf der für ihre Umsetzung gesetzten Frist am 19. Oktober 1994 in Anspruch genommen wurden.

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Da sich die Beantwortung der Vorlagefragen auf die Richtlinie 86/378 in der durch die Richtlinie 96/97 geänderten Fassung stützt, braucht Artikel 119 EG-Vertrag nicht ausgelegt zu werden.
Daher sind die vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

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Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe g der Richtlinie 86/378 in der durch die Richtlinie 96/97 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er nationalen Bestimmungen entgegensteht, nach denen eine Arbeitnehmerin während des teilweise vom Arbeitgeber bezahlten gesetzlichen Mutterschaftsurlaubs keine Anwartschaften auf eine Versicherungsrente, die Teil eines Zusatzversorgungssystems ist, erwirbt, weil die Entstehung solcher Anwartschaften davon abhängt, dass die Arbeitnehmerin während des Mutterschaftsurlaubs steuerpflichtigen Arbeitslohn erhält.

Kosten

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Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren vor dem Gerichtshof ein Zwischenstreit in dem vor dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen beim Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe g der Richtlinie 86/378/EWG des Rates vom 24. Juli 1986 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen bei den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit in der durch die Richtlinie 96/97/EG des Rates vom 20. Dezember 1996 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er nationalen Bestimmungen entgegensteht, nach denen eine Arbeitnehmerin während des teilweise vom Arbeitgeber bezahlten gesetzlichen Mutterschaftsurlaubs keine Anwartschaften auf eine Versicherungsrente, die Teil eines Zusatzversorgungssystems ist, erwirbt, weil die Entstehung solcher Anwartschaften davon abhängt, dass die Arbeitnehmerin während des Mutterschaftsurlaubs steuerpflichtigen Arbeitslohn erhält.

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